Das Ende der Liebe
gleiche Wirkung haben Orte und Landschaften. Nur an einem Bildungsort können die freien Menschen sich als Bildungsmenschen fühlen. Geistesmenschen sind sie nur an Orten des Geistes, Kunstmenschen nur an Orten der Kunst. Jeder gewöhnliche Ort macht auch sie selbst sofort zu gewöhnlichen Menschen. Jeder hässliche Ort macht auch sie selbst hässlich. Die Welt füllt sie, als seien sie Gefäße – entweder mit einer edlen Substanz oder mit Fusel. Größe haben sie nur, wenn sie umgeben sind von Größe, Künstler sind sie nur, wenn sie umgeben sind von Kunst. Jede Niedrigkeit erniedrigt sie. In einem Supermarkt werden sie zu Supermarktmenschen. In einem Möbelhaus (vor der Stadt, neben der Autobahn), werden sie zu Möbelhausmenschen, zu Vorstadtmenschen, zu Autobahnmenschen. Wenn sie eine Pauschalreise unternehmen, werden sie sofort zu Pauschalreisenmenschen. Eben waren sie noch in einem Museum, erfüllt von Kunst, sie waren Künstler, jetzt sind sie in einem Einkaufszentrum, [217] die Kunst hat sie verlassen, sie sind erfüllt von Banalität und Kommerz, sie sind selbst banal und kommerziell geworden. Eben waren sie noch in Italien, sie waren Italiener , jetzt sind sie in Mannheim und augenblicklich als Italiener vernichtet und wiedergeboren als Mannheimer. Stets sind sie das, was sie umgibt. Der Horizont ist ihre Silhouette. Die Welt ist entweder Befreier oder Besatzer.
Wenn die Menschen also einen Partner haben, der ihnen nicht gleicht, der anders ist als sie, werden auch sie selbst zu anderen Menschen. Der Partner, der ein Künstler ist, macht auch sie zu Künstlern. Der Partner, der gewöhnlich ist, der keinen Ehrgeiz kennt, macht auch sie selbst gewöhnlich, passiv, chancenlos. Die Menschen, die wählen müssen, können nicht mehr unterscheiden zwischen sich und der Welt. Sie verlieren, wie man sagt, jede Distanz, jeden Humor. Sie verstehen keinen Spaß – denn für sie geht es um Leben oder Tod. Von der falschen Welt, dem falschen Partner werden sie ausgelöscht. Die Vorstadt vernichtet sie, der gewöhnliche Partner, der Ungebildete und Unentwickelte, Entwicklungsunfähige, zieht sie herab in seinen Sumpf.
Die Menschen sagen: »Ich weigere mich, an diesen Ort zu gehen, diesem Menschen zu begegnen. Ich lasse mich von der Gewöhnlichkeit dieses Ortes, dieses Menschen nicht besetzen.« Nur in der passenden Umgebung, umgeben von den passenden Menschen können die freien Menschen existieren. Wie Schalentiere sterben sie, wenn die Schale sich löst, die sie umschließt.
Alles, was den Menschen nicht vollkommen gleicht, scheint ihnen außerdem die Folge eines unerträglichen Zufalls zu sein – Partikel der unendlichen Welt, das ihnen zufällig in die Hände gefallen ist.
Menschen werden heimisch in der Welt durch Schicksal [218] und fremd durch Zufall. Wer das Gefühl hat, alles in seinem Leben sei Schicksal, ist auch in der Fremde noch zu Hause, auch im Unglück noch bei sich. Es ist ja sein Leben, das er lebt, sein Schmerz, sein Weg in die Fremde. Wer dagegen das Gefühl hat, alles in seinem Leben sei Zufall, ist immer und überall fremd, auch im Glück noch entfremdet, nicht glücklich.
Die Menschen leiden darunter, dass sie sich, einerseits, das Glück denken als eine Folge ihres Handelns, als ein geschmiedetes und erreichtes, gesuchtes und gewähltes Glück; dass andererseits aber die unendliche Welt sie stets mit einer Unzahl scheinbar gleichwertiger Möglichkeiten konfrontiert; dass also den Menschen jede Wahl als willkürlich, als zufällig erscheinen muss. Das Schicksal der freien Menschen ist die Schicksallosigkeit, der ewige Zufall.
Das Zufallsgefühl wollen sie dadurch überwinden, dass sie einen wählen, der ihnen vollkommen gleicht. Denn Gleichheit ist sichtbar, messbar, Andersheit nicht.
Die Menschen fragen einander also ab. Wenn sie eine Übereinstimmung mit dem Anderen entdecken, nimmt das unerträgliche Zufallsgefühl einen Augenblick lang ab – bis sie einen Unterschied zum Anderen entdecken und das Zufallsgefühl wieder, auf unerträgliche Weise, zunimmt. Aus der Kluft jedes Unterschieds weht die Menschen die Zufälligkeit des Anderen an, die Zufälligkeit ihrer gesamten gewählten Existenz.
Die Händler der Unendlichkeit, die Massen anbieten und mit Massen werben – Massen auf der Tanzfläche, im Internet –, bleiben die Notwendigkeit des Einzelnen naturgemäß ebenfalls schuldig. Darum fingieren sie sie ebenfalls durch Masse, die Masse der Übereinstimmungen. Die endlosen
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