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Das Ende der Liebe

Das Ende der Liebe

Titel: Das Ende der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Hillenkamp
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von möglichen und vergangenen Partnern. Ihre Organe sind noch nicht vergrößert und gedunsen von Unendlichkeit. Die Schönheit von einem steht für sie noch für die Schönheit des ganzen Geschlechts, der Frauen, der Männer. Sie, die Jungen, sind noch uralt : Überlebende längst vergangener Zeiten. Doch bald werden sie ankommen: in der Gegenwart, der Freiheit und Unendlichkeit.
    Sie werden die Unendlichkeit möglicher Partner wahrnehmen, erst in der Welt, dann, schon bald, in ihrer Erinnerung. Sie werden sich auf die Suche machen. Sie werden wählen wollen. Sie werden alles Gefundene vergleichen. Sie werden nichts mehr entdecken.
    Älter werden, das bedeutet also, frei zu werden (und frei zu sein, das bedeutet, auf beschleunigte Weise zu altern), also, alle Zurückhaltung abzulegen, seine Möglichkeiten wahrzunehmen, nur noch aus Erinnerung und Hoffnung zu bestehen.
    Für ältere, nun freie Menschen steht der Andere nicht mehr für eine Welt, eine Idee, sondern nur noch im Verhältnis , zu allen anderen, zur Hydra. Die freien Menschen können nicht mehr symbolisieren, weil sie vergleichen müssen. Aus [227] dem Innenraum der Auswahl und des Vergleichens führt kein Symbol mehr hinaus.
    Jeder Einzelne wird ein bedeutungs- und sinnloses Zeichen. Wie ein Verkehrsschild, das man nicht mehr auf den Verkehr beziehen kann, nur noch auf andere Verkehrsschilder, die sich ebenfalls nur noch auf andere Verkehrsschilder beziehen. Das Bewusstsein der freien Menschen findet keinen Halt mehr. Es stürzt in einem unendlichem Rückschritt und Fortschritt in seine Erinnerung und Erwartung.
    Die romantische Liebe wurde einst möglich in dem Maße, in dem Barrieren, Bindungen und Notwendigkeiten sich soweit auflösten, dass die Menschen beweglich wurden, sich bewegen konnten zwischen Clans, Klassen und Orten, zwischen Lebensmöglichkeiten. Sie wurde möglich in dem Maße, in dem das Leben selbst im Bewusstsein als Bewegung erschien, als Wahl – und der Andere zum Symbol dessen werden konnte, wohin man sich bewegen wollte, was man gewählt hatte, Symbol eines Ortes, einer Welt, einer Art zu leben.
    Im gleichen Maße wird die Liebe nun unmöglich. Denn die freien Menschen denken nicht nur, dass sie die Wahl haben, sondern sie wollen die beste Wahl treffen. Das Bewusstsein, die Wahl zu haben, also frei zu sein, hat sich gesteigert zum Bewusstsein, die Auswahl zu haben – also unter unzähligen Möglichkeiten wählen zu können, wählen zu müssen.
    Unendliche Möglichkeiten der Selbstüberschreitung treffen auf eine unendliche Auswahl mögliche Partner – also auf unendliche Möglichkeiten der Selbstüberschreitung mit Hilfe eines anderen . Damit wird jeder, für den die Menschen sich entscheiden könnten, umgehend zum Selbstüberschreitungshindernis.
    [228] Man stelle sich vor!
    Auf den ersten Blick ist jeder Geliebter eine Leiter, die an einer Mauer steht.
    Mit der Zeit aber wird der Geliebte selbst zu einer Mauer. An dieser steht wieder eine Leiter. Das ist der nächste Geliebte.
    Die freien Menschen aber sehen in keinem mehr die Leiter, in allen schon die Mauer.
    Auf Zugfahrten stellen die Menschen sich bei jedem Ort, den der Zug durchfährt, vor, sie müssten dort für immer bleiben. Jeden Ort denken sie sich mit Schrecken als Ort ihrer lebenslänglichen Verbannung. Besonders die Orte, die der Zug passiert, ohne zu halten. Eine Hauptstraße, eine Tankstelle, eine Gaststätte – es wird ein Leben lang ihre Hauptstraße sein, ihre Tankstelle, ihre Gaststätte. Die unendliche Bewegung der Menschen kommt plötzlich, zufällig, für immer, zu einem Ende. Ihr Leben fällt in ein Kaff wie die Roulettekugel in ihr Fach, unwiderruflich. Die Welt dreht sich weiter, doch sie sind gefangen. Größer könnte die Fremde nicht sein.
    Tatsächlich will den freien Menschen jeder mögliche Partner als ein solcher Ort erscheinen, als Ort lebenslänglicher Verbannung; als ein Ort, der mit einem Blick zu übersehen, in Minuten zu durchschreiten ist. Sie erleben den Anderen nicht als Unendlichkeit und »immer wieder neu«, sondern als eine unerträgliche Begrenzung und Überschaubarkeit. Sie wollen nicht verbannt sein in die Erlebnis- und Gefühlswelt des Anderen, in seine kleinen Kreise , seine ewige Selbstwiederholung. Sie fürchten das Hin und Her auf der Hauptstraße seines Charakters, sein Gesicht als einzige Aussicht bis in den Tod.
    In einem Roman wird ein Mann als Ort der Verbannung beschrieben: »Was Charles redete, war platt wie das

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