Das Ende der Liebe
nur sein gewöhnliches Leben fortführen . Er empfand seine Existenz als vollständig, brauchte zu deren Entfaltung jedoch einen Anderen. Der romantisch Liebende dagegen wollte mit dem Geliebten anders leben . Er empfand seine Existenz, sein Selbst als mangelhaft und suchte nach einem Anderen, um zu seinen Möglichkeiten vorzustoßen. Für den romantisch Liebenden hieß sich zu verlieben sich zu verbessern. Sich Verlieben bedeutete, sein Utopia in einem anderen Menschen zu entdecken. Liebe war Bewegung, Progression. Der Andere war ein Tor zur Unendlichkeit.
Die Hoffnung auf Selbstüberschreitung entstand also in der Romantik. Erst jetzt aber existieren unendliche Selbstüberschreitungsmöglichkeiten , unendliche Möglichkeiten, aus eigener Kraft sowie mit Hilfe eines Partners (den man aus eigener Kraft erobert, sich erkämpft hat) sich selbst zu verändern, zu überschreiten.
Mit den unendlichen Möglichkeiten aber wird aus der Selbstüberschreitungshoffnung der Romantik der Selbstüberschreitungsfanatismus [222] der freien Menschen. Aus einer Möglichkeit wird eine Notwendigkeit. Jede Überschreitung muss wiederum überschritten werden durch einen neuen, besseren Partner.
Die Menschen, die glauben, sich unendlich entwickeln zu können, würden mit der Bindung zu einem anderen Menschen tatsächlich die einzige Bindung zur Welt eingehen. In einer Partnerschaft sollen sich die Unendlichen ketten an die Endlichkeit eines anderen Menschen, an seine begrenzten Fähigkeiten, seinen gesellschaftlichen Stand, sein Lebensmodell. Du bist meine Sonne, das heißt jetzt: ich bin verdammt, um dich zu kreisen.
So entsteht eine neue Bindungsangst, die eine Angst vor gesellschaftlicher Bindung ist, Angst vor der Bindung an eine Stadt, ein Land, eine Schicht, ein Milieu, einen Beruf, eine Altersgruppe, ein Lebensmodell, eine Lebensenergie, ein Niveau der Intelligenz, ein Niveau der Kreativität.
Die Bindung an den Anderen wäre also auch eine Bindung des Selbst – Verhinderung seiner unendlichen Entwicklung. Keine andere Entscheidung im Leben der freien Menschen hat diese Tragweite, diese furchtbare Konsequenz. Allem lässt sich der Charakter des Provisorischen verleihen, des Vorübergehenden, der Etappe: der Stadt, in der man lebt, dem Beruf, in dem man arbeitet, der Qualität der eigenen Arbeit. Nur die Liebe beansprucht, Vollendung zu sein, also Endpunkt. Den Menschen will es scheinen, als müssten sie sich für einen Ort entscheiden bis zu ihrem Tod; als müssten sie sich mit dem Erreichten für immer begnügen. Jeder Andere erscheint ihnen als schreckliche Beschränkung.
Die freien Menschen denken: »Wie soll ich mein Gegenstück finden – wenn ich selbst doch niemals fertig werde. Wer soll zu mir passen, mir gleichen – wenn ich mich doch [223] immerzu verändern will. Nur wer sich gleich bleibt, kann einen Gleichen finden. Wer mir heute gleicht, ist mir morgen fremd, dem bin ich morgen schon entwachsen. Ich wachse aus jeder Liebe heraus, wie ein Kind aus allen Kleidern.«
Werther suchte keinen Partner. Er machte eine Entdeckung. »Ich ging durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und da ich die vorliegenden Treppen hinaufgestiegen war und in die Tür trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich jemals gesehen habe.« Das Schauspiel ist nicht die Frau selbst, die Werther in diesem Augenblick sieht, sondern eine Szene. Die Frau, immerhin »von schöner mittlerer Taille«, weder dick noch dünn also, verteilt Brot an Kinder, ihre jüngeren Geschwister. Werther bemerkt, dass die Frau genau weiß, wie viel Brot jedes Kind braucht. Es ist ein zärtliches Ritual.
Es ist Liebe auf den ersten Blick. Doch Werther hat bereits einen langen Weg hinter sich, als sein Blick auf Lotte fällt. Sein Blick ist tatsächlich mehr ein Letztes als ein Erstes. Werther erblickt Lotte wie ein Entdecker seine Entdeckung – jedoch ohne gewusst zu haben, dass er auf Entdeckungsreise war. Er erblickt sie wie ein Heimkehrer die Heimat – jedoch ohne gewusst zu haben, dass er auf Heimfahrt war.
Werther hat gerade eine persönliche Krise überwunden und glaubt, den Ort gefunden zu haben, an dem er leben will. Lange hat er mit sich und seiner Existenz als Künstler gehadert. Er ist vor der Unruhe der Stadt geflüchtet, dem Alltag der Bürger, der Grübelei über vergangenes Unglück. Er ist aufs Land gezogen. Er hat sich die Natur zum Ideal genommen und die Kinder zum Vorbild. Er lässt sich den Kaffee aus dem Wirtshaus tragen
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