Das Ende der Liebe
Botschaften der Medien und der Werbung einsickern ins Unbewusste; dass die ganze Gesellschaft im Unbewussten sitzt wie in einem Hinterhalt, jederzeit bereit, es zu überrumpeln; dass das Bewusstsein sich stets innerhalb einer geschichtlichen Mentalität bewegt, innerhalb eines geschichtlichen Paradigmas , wie der Gefangene auf dem Quadrat eines Gefängnishofes; dass jeder Gedanke nur ein Gefühl ist, alle Metaphysik nichts als Gefühl.
Die Menschen mussten erkennen, dass ihr Denken ein depressives Denken, bürgerliches Denken, männliches oder [247] weibliches Denken ist; dass ihr Denken also gar nicht ihr eigenes Denken, ihr Fühlen nicht ihr eigenes Fühlen, ihr Bewusstsein also nicht ihr eigenes Bewusstsein ist; dass das Bewusstsein geprägt ist, traumatisiert , sozialisiert und indoktriniert ; dass es an Fäden hängt wie eine Marionette, der Mensch nicht Herr im eigenen Kopf, Herr im eigenen Hause ist.
Es war ein Schock. Die Menschen entdeckten sich als Opfer einer Fremdherrschaft, die ihnen bislang verborgen geblieben war. Der Schock wiederholt sich im Leben jedes jungen Menschen. Das eigene Bewusstsein erscheint als Leinwand, auf die die Welt und die eigene Vergangenheit nur ihre Figuren projizieren.
Die Menschen entdecken, dass ihr Bewusstsein von einer allumfassenden Matrix gespeist und kontrolliert wird. Sie sagen: »Ich will ein freies Bewusstsein haben. Alles, was mir unbewusst ist, soll mir bewusst werden. Aus falschem Bewusstsein soll richtiges werden.« So reden die freien Menschen. Sie wollen ihre Muster und Mechanismen loswerden, die neurotischen und kapitalistischen, die patriarchalen und pornografischen. Sie kehren die Erkenntnis totaler Fremdherrschaft um in den Anspruch totaler Befreiung.
Sie entwickeln das Ideal eines gänzlich unbeeinflussten, selbstbewussten Selbst – eines Selbst, das nur Selbst ist. Sie lesen Zeitung und sehen fern: also verfügen sie über eine soziologische und psychologische (und jetzt auch neurowissenschaftliche) Bildung. Die Waffen der Wissenschaft können jetzt auch von Privatpersonen erworben werden. Ja, der Besitz wissenschaftlicher Begriffe und deren Gebrauch im Privaten ist nicht nur erlaubt, sondern unumgänglich. Die Erkenntnisse aller Wissenschaften vom Menschen konnten den Menschen nicht verborgen bleiben; so wurden sie zu Wissenschaftlern ihrer selbst.
[248] Die Menschen wenden also die Erkenntnisse der Soziologie und Psychologie auf sich selbst an – und auf alle anderen Menschen. Auch der Geliebte soll ein freies Bewusstsein haben, auch er soll sich sein Unbewusstes bewusst gemacht haben. Die Menschen denken, dass sie unbegrenzte Möglichkeiten der Selbstaufklärung und Selbsttherapie haben. Sie sagen: »Wo Muster und Mechanismen sind, da soll Ich werden. Wo Muster und Mechanismen sind, da sollst Du werden.«
Die Menschen wissen, dass sie – im Innersten – noch unfrei sind. Sie wollen frei erst werden. Das wahre Selbst ist ihnen das unendlich befreite Selbst, befreit von allem Einfluss der Vergangenheit und der Gesellschaft, des seelischen Apparats, der Medien- und Pornoindustrie. Die Menschen sagen: »Meine Vergangenheit soll mein Bewusstsein nicht mehr beherrschen. Die gesellschaftlichen Mechanismen sollen mein Bewusstsein nicht mehr lenken.« Die Menschen sehen ihr Bewusstsein permanent von etwas beeinflusst, sie wollen ihr Bewusstsein permanent von etwas befreien. Sie leiden an einer ständigen Paranoia der Bewusstseinsbeeinflussung, an einem Fanatismus der Bewusstseinsbefreiung. (Das Wort Paranoia ist eigentlich fehl am Platz, bezeichnet es doch etwas, das »neben dem Verstand«, in Verrücktheit sich entfaltet. Die ständige Furcht der freien Menschen vor Beeinflussung kommt aber gerade aus dem Verstand .)
Tatsächlich wollen die freien Menschen aber nicht nur als Wissenschaftler ihrer selbst ihr Bewusstsein befreien, sondern ebenso als Künstler ihrer selbst. Sie haben ein Künstlerideal. Das Bewusstsein eines Künstlers, so denken sie, ist ein freies Bewusstsein. Ein Künstler ist selbständig und einzigartig, unabhängig und originell. Jedenfalls soll und möchte er das sein. Tatsächlich ist jeder Künstler ein Beeinflussungsparanoiker [249] und Bewusstseinsfanatiker. Er fürchtet permanent, von irgendwem oder irgendwas beeinflusst zu werden, sein wahres, originelles Selbst zu verlieren, sich anzupassen an die Gesellschaft, an das System, den Kommerz, an andere Künstler, den eigenen Partner. Wenn der Partner Künstler ist, fürchten
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