Das Ende der Privatsphäre: Der Weg in die Überwachungsgesellschaft
miteinander vernetzt. Strukturelle Veränderungen des sozialen Sicherungssystems haben immer umfangreichere Datenbanken zur Folge. Da verschiedene Leistungssysteme miteinander verflochten sind und unterschiedliche Sozialleistungen gegeneinander aufgerechnet werden müssen, werden zunehmend Daten abgeglichen. Dabei werden neben Sozialleistungsträgern weitere staatliche Stellen einbezogen, etwa Steuerbehörden. Der Datenabgleich soll Fälle aufdecken, in denen rechtswidrig mehrere Sozialleistungen in Anspruch genommen werden. Diese Durchrasterung verschiedener Datenbanken ist datenschutzrechtlich bedeutsam, weil die Daten dabei für andere Zwecke als den ursprünglichen Erhebungszweck verwendet werden und weil sie durchgeführt wird, ohne dass ein Verdacht gegen die Betroffenen vorliegt. Insofern ähnelt sie der Rasterfahndung (vgl. 3.5).
Ein besonders spektakuläres Beispiel war der Abgleich von Daten von BAföG-Empfängern mit steuerlichen Freistellungsaufträgen. Dabei wurden die Daten der Empfänger von Stipendien nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz mit Daten aus Freistellungsaufträgen abgeglichen, die beim Bundesamt für Finanzen registriert sind. Ziel war es dabei, Personen herauszufinden, die eigenes Einkommen und Vermögen bei der Beantragung des Stipendiums verschwiegen hatten. Im Ergebnis wurden bei Tausenden von Stipendienempfängern die Bewilligungsbescheide widerrufen, Gelder zurückgefordert und gegen die Begünstigten Betrugsverfahren eingeleitet. Auch bei der Gewährung von Sozialhilfe und von Arbeitslosengeld II (ALG II) finden Abgleiche mit anderen Datenbeständen statt, um von den Antragstellern möglicherweise verschwiegene Renten oder Ersparnisse ausfindig zu machen.
Als das Arbeitslosengeld II eingeführt wurde, lösten die umfangreichen Antragsformulare eine Flut von Protesten und Beschwerden aus. Gefragt wurde nicht nur nach den persönlichen Lebensumständen und Vermögensverhältnissen der Antragsteller, sondern auch nach Daten von Mitbewohnern und Verwandten. So sollte insbesondere geklärt werden, ob der Antragsteller in einer »Bedarfsgemeinschaft« wohnt, über sonstiges Einkommen oder Vermögen verfügt und ob er durch Verwandte oder Mitbewohner unterstützt werden könnte. Die Antragsbögen enthielten zunächst in beträchtlicher Zahl auch Fragen nach solchen Angaben, die für die Leistungsberechnung gar nicht erforderlich waren.
Zwar ist es den Datenschutzbeauftragten in mühsamen Verhandlungen gelungen, eine Änderung der Fragebögen durchzusetzen. Das Grundproblem konnte dabei aber nicht aus der Welt geschafft werden: Das ALG II ist – wie die Sozialhilfe – subsidiär zu anderen Sozialleistungen, das heißt, es wird in Abhängigkeit von der individuellen Bedürftigkeit gezahlt. Wenn also jemand über andere Einkommensquellen oder über nennenswertes Vermögen verfügt, müssen diese Mittel zunächst aufgebraucht werden. Deshalb lässt sich eine individualisierte Bedürftigkeitsprüfung kaum vermeiden. Nur wenn der Betroffene den Nachweis führt, dass er keine anderen Möglichkeiten hat, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, erhält er ALG II. An diesem Beispiel wird deutlich, dass manche Datenschutzprobleme eng mit der Grundkonzeption der Leistungssysteme verbunden sind und sich nicht isoliert lösen lassen.
Als sich herausstellte, dass die Kosten beim ALG II weit über den Erwartungen lagen, hielt man sich nicht allzu lange mit Ursachenforschung auf, sondern hatte bald die Schuldigen gefunden. Wolfgang Clement, Bundeswirtschaftsminister der rot-grünen Koalition, hatte dazu eine Broschüre 45 veröffentlichen lassen, die anhand von Fallbeispielen belegen sollte, dass die Sozialleistungen in großem Umfang von nicht berechtigten Personen in Anspruch genommen werden. Gleichzeitig wurde in der Öffentlichkeit vielfältiger »Missbrauch« angeprangert. Bei etlichen der als »Missbrauch« gebrandmarkten Fälle war der Sozialleistungsbezug allerdings völlig legal, etwa wenn erwachsene Kinder aus dem Elternhaus auszogen und ihnen damit ein eigener Unterstützungsanspruch zukam. Sicherlich kann man unterschiedlicher Auffassung darüber sein, ob die Gestaltung der Wohnverhältnisse moralisch gerechtfertigt ist, wenn damit lediglich bezweckt wird, dass die betroffenen Personen nicht als »Bedarfsgemeinschaft« mit gegenseitiger Unterstützungspflicht eingestuft werden. Andererseits sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass es sich bei derartigen Gestaltungen um ein völlig
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