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Das Ende der Sterne wie Big Hig sie kannte

Das Ende der Sterne wie Big Hig sie kannte

Titel: Das Ende der Sterne wie Big Hig sie kannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Heller
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gefunden. Diesmal wirklich. Auf einer Insel, die 1940 offiziell als gründlich abgesucht galt. Geöffnete Muschelschalen, ein kaputtes Klappmesser ohne Klinge, aus der sich vermutlich jemand einen Speer zum Fischen gebastelt hatte. Eine Feuerstelle. Eine alte Puderdose. Ein Flugzeugfenster aus Plexiglas. Ein Damenschuh. Knochen. Knochensplitter. Die DNA wurde mit der einer noch lebenden Cousine Earharts abgeglichen. Natürlich handelte es sich um die Insel, auf der Amelia und ihr Navigator gestrandet waren. Für wie lange? Um woran zu sterben? Das Korallenriff aus der Luft betrachtet: eine elliptische Oase mit Lagune in der Mitte. Bei Niedrigwasser ist das äußere Riff so flach wie ein Parkplatz. Earharts Lockheed Electra mit einer Abreißgeschwindigkeit von achtzig Stundenkilometern hätte für die Landung nicht mehr als zweihundertfünfzig Meter gebraucht. Vielleicht haben sie ihre knappen Vorräte an Land geschleppt, vielleicht waren sie verletzt. Vielleicht gab es gar kein Niedrigwasser, vielleicht wurde das Fahrgestell von den Wellen abgerissen. Vielleicht war Blut im Wasser. Wenn einem über dem Pazifik der Treibstoff ausgeht, nimmt man dankbar an, was kommt. Dass sie es überhaupt bis auf diese winzige Insel geschafft hatten. Dass sie sich von Muscheln und Regen ernähren konnten.
    Muscheln und Regen.
    Und die Gesellschaft eines anderen Menschen, eines einzigen anderen Menschen.
    Hunger. Langsam dringt er durch, wie Feuer durch ein feuchtes Scheit. Abgemagert bis auf die Knochen, zwei wandelnde Skelette, und dann stirbt erst der eine und dann der andere. Vielleicht wäre es besser, vorher von irgendwelchen Eingeborenen erschlagen zu werden.
    Und was haben sie die ganze Zeit am meisten vermisst? Das Fegefeuer der Eitelkeiten, den Ruhm, die Partys, das Knallen der Blitzlichter? Die Geliebten, die Heiterkeit, den Champagner? Die der Prominenz abgetrotzte Einsamkeit, wenn man im Licht einer einsamen Lampe am Schreibtisch eines altehrwürdigen Hotels über einer Landkarte sitzt? Den Zimmerservice, den Kaffee im Morgengrauen? Einen guten Freund, oder zwei? Die Frage: Alles oder nichts? Ein bisschen oder weniger? Jetzt oder später?
    Ich habe sie nicht mehr, diese Wahl. Und trotzdem. Ich will nicht, dass mir der Treibstoff ausgeht und ich am Rand des Gunnison-Tals im hohen Steppengras notlanden muss. Ich will nicht bei dem Versuch umkommen, zusammen mit Jasper die fünfhundert Kilometer nach Hause zu marschieren. Nach Hause. So trist es auch ist. Wo ich doch nichts mehr zu verlieren habe. Irgendwie ist nichts auch etwas.
    *
    Jasper knurrte. Ich war über meinen Tagträumereien eingeschlafen.
    Mit seiner tiefsten Stimme, böse, ernst.
    Ich hielt den Atem an und lauschte. Setzte mich langsam auf. Er ist fast taub, ja, aber seine Nase ist gut.
    Könnten Kojoten sein. Oder Wölfe. Die Bergwölfe in den letzten zwei Jahren: Als zerzauste Rudel kommen sie aus den Rockies runter. Sie vermehren sich schnell, es treibt sie aus den Wäldern. Ganz früher gab es zu viele von ihnen, und jetzt wieder.
    Jasper knurrte mitten in der Nacht, und ich setzte mich mit klopfendem Herz unter meiner Decke auf. Ich flüsterte: Platz und kroch zur Kuppe der Böschung hoch.
    Jasper verstand. Er weiß, wann es ernst wird.
    Er setzte sich auf die Hinterpfoten, verstummte mitten im schönsten Knurren und sah mich mit echter Sorge an, aber auch mit der Vorfreude eines abenteuerlustigen Jägers. Er war aufgekratzt. Ich auch. Das war uns schon lange nicht mehr passiert, bestimmt ein halbes Jahr nicht. Ich fühlte mich ein bisschen träge, aus der Übung. Vor einigen Jahren noch wäre ich längst oben auf dem Hügel gewesen und hätte mit meinem Nachtsichtgerät die Umgebung abgescannt, die linke Hand immer am Funkgerät. So aber musste ich erst das Gewehr unter der kalten, feuchten Plane und dem Seesack rausziehen. Das Nachtsichtgerät lag in einer alten Wollsocke gleich daneben. Immerhin hatte ich dran gedacht, es zum Schlafen mit nach draußen zu nehmen. Ich setzte mir das Gerät an die Stirn, zog mir das Gummiband über den Hinterkopf, rückte die Brille langsam und lautlos zurecht, zog behutsam den Ladehebel des Gewehrs durch. Schob mich langsam die Böschung rauf, ganz vorsichtig.
    Jasper war still. Er rang den Impuls nieder, im Dunkeln dem Geruch oder dem Geräusch nachzujagen, einem Geräusch in einer Frequenz, die seine Taubheit durchbohrt hatte. Langsam kroch ich die steile Böschung hoch. Ich betete, dass es Kojoten waren, meinetwegen

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