Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)
vor der Rückbank liegen. »Schließ alles ab. Ich muss noch wohin. Du kannst nicht weggehen, sonst bringt Mom uns beide um.«
»Okay«, sage ich.
Das ist das längste Gespräch, das wir hatten, seit er mir in der vierten Klasse mal gezeigt hat, wie man ein Fahrrad aufpumpt.
Ich öffne die Autotür und steige aus. Wir starren das Haus an, es sieht so still aus. Aus dem Augenwinkel sehe ich die Fliegentür der Ververs, sie schlägt Wellen, man konnte immer hindurchsehen, aber jetzt ist die schwere Haustür zu und alle Vorhänge zur Straße hin geschlossen, wie im Winter, wenn wir die Scheiben mit Schnee aus der Sprühdose dekorieren.
Es ist alles verrammelt, auch bei uns. Als würden wir aus dem Urlaub an der Küste zurückkommen, die Einfahrt hochfahren und denken: ist das wirklich unser Haus? Als hätten die Türen und Fenster sich selbst verschlossen, das Haus sich in sich selbst zurückgezogen.
Ted räuspert sich, und ich merke, dass sich meine Finger immer noch um die offene Autotür krallen.
»Ist doch alles okay, oder?«, fragt er. Ich sehe mich selbst in seinen Sonnenbrillengläsern und finde mich dick und riesig, mit einer tiefen Falte auf der Stirn.
»Joo«, sage ich und sehe mich es sagen, und dann schauen wir wieder das Haus an.
Drinnen ist es so ruhig und einsam, dass ich am liebsten mit dem Fußball im Garten herumkicken würde, aber ich will nicht, dass die Ververs mich sehen.
Ich gehe von einem Zimmer ins andere und fühle mich wie ein Einbrecher, ich stecke hier und dort die Nase hinein, streiche mit den Fingern über die Cover der Hustler in Teds Kleiderschrank, über offene rote Münder, und bereitwillig gespreizte Beine. Ich muss mir an den Hals fassen und mir wird ganz schwummerig.
Ted liegt in diesem Moment wahrscheinlich unter der blonden Haarwolke seiner Freundin Nina begraben, sie hat immer lila lackierte Fingernägel, ihre Finger krallen sich immer um sein Knie.
Im Zimmer meiner Mutter spiele ich mit ihrem Flakon Je Reviens herum, schraube den goldfarbenen Deckel ab und fahre mir mit dem darinliegenden Stift übers Handgelenk, wie früher, als ich sieben war und die Folienschrift auf der Schachtel anstarrte: Für romantische Stunden.
Ihr Zimmer ist aufgeräumt, gedämpft, und meine Söckchen laden sich auf dem Teppich elektrisch auf. Ich habe es kaum betreten, seit den ersten Wochen, nachdem Dad uns verlassen hatte, als sie mich bat, zu ihr ins Bett zu kriechen, und wir beide in das Telefonkabel eingewickelt waren und sie ihn anrief und ihn fragte, wie er uns das antun konnte und ob er die Familie zerstören wollte.
Später musste ich ihr versprechen, ihr all das zu verzeihen, weil sie nicht so schwach hätte sein dürfen und doch eigentlich ein gutes Vorbild für selbstbewusstes Frausein abgeben wollte. Aber auch wenn sie das immer und immer und immer wieder sagte, fragte ich mich, ob ich sie je wieder so zart und sanft erleben würde wie in der Zeit, als sie für Dad ihr bordeauxfarbenes Seidenkleid angezogen und sich das Je Reviens auf die Mitte ihres BHs getupft hatte – ein Geheimnis, das von Mutter zu Tochter weitergereicht wurde, auch wenn sie rot wurde, als sie es mir sagte. Ich war neun, und es war der verführerischste Blick in die Erwachsenenwelt, den ich je erhascht hatte.
Ich bleibe mit dem Zehennagel irgendwo hängen und stolpere fast, und mein Blick fällt auf etwas, das unter der umhäkelten cremefarbenen Tagesdecke hervorgekrochen kommt. Ich bücke mich und sehe eine dunkle Herrensocke, gekrümmt wie der Flügel einer Fledermaus. Ich hebe sie mit spitzen Fingern hoch und betrachte sie von allen Seiten.
Meine Fantasie geht mit mir durch, als ich mir ihren nächtlichen Gast vorstelle, ihren Dr. Aiken, wie er durch den Flur tänzelt, als würde er brennen, zur Haustür hinausschlüpft und barfuß auf das Gaspedal seines silbernen Lincoln tritt, bis er merkt, was er vergessen hat.
Schließlich führt mein Rundgang mich in mein eigenes Zimmer, ich hole mein neues Kleid für die Schulabschlussfeier aus dem Schrank, es ist noch im Plastiksack und schimmert silbrig. Die Rosen darauf sind total aufdringlich, so war es mir im Laden überhaupt nicht vorgekommen. Ich hatte mich vor dem Spiegel gedreht und die Anweisungen meiner Mutter an mir abprallen lassen (»Streich dir mal die Haare aus dem Gesicht, Lizzie«), hatte mich betrachtet und mich glamourös gefühlt, die Rosen auf meiner Brust, sie blühten dort, und es sah fast aus, als hätte ich voll entwickelte
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