Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)
Klauen statt Händen, der in seinem Truck lebt.
Aber es ist Mr. Shaw.
Hundertmal haben wir ihn den Zeitungsjungen bezahlen oder tanken sehen, er war einfach irgendein älterer Mann, und jetzt ist er der, der Evie in seinem Buick verschleppt hat. Er hat sie mitgenommen und hat bestimmt Dinge mit ihr gemacht und gemacht, gemacht, gemacht.
Hundert Männer wie er, in den fünf Blocks links und rechts der Straße, und mir ist nie einer von ihnen aufgefallen.
Es ist abends, die dritte Nacht. Nach der Krisensitzung des Eltern-Lehrer-Ausschusses telefoniert meine Mutter noch den ganzen Abend mit anderen Eltern, das Telefon klingelt ununterbrochen, und mein Bruder hat sich in seinem Zimmer verbarrikadiert, der Fernseher läuft, die Stereoanlage ist an, alles ist an, und wenn ich die Hand an seine Zimmertür lege, kann ich die Vibrationen spüren. Wie ein dröhnender, kreischender Fluch über der Schwelle, der mich draußen hält.
Also gehe ich von einem Zimmer ins andere. Als ob ich Evie so finden könnte, unter der Fensterbank hockend oder in den Duschvorhang gewickelt, und dann lacht sie, lacht darüber, dass wir uns alle solche Sorgen gemacht haben.
»Harold Shaw.« Meine Mutter steht im Türrahmen. »Das kann doch nicht sein. Kann doch nicht.« Sie schüttelt den Kopf.
Ich antworte nicht, knipse nur meine Nachttischlampe aus, und sie geht den Flur hinunter.
Ich habe ein Bild im Kopf, von meiner Mutter, wie sie bei einem Picknick am Memorial Day zusammen mit Mr. Shaw Lichterketten aufhängt und ihn bittet, ihr behilflich zu sein, als sie die Leiter heruntersteigt. Ist das wirklich passiert, und hat sie dabei wirklich so mädchenhaft gekichert, als er sie heruntergehoben und vorsichtig auf den Boden gesetzt hat? Ich muss an die anderen Eltern bei den Straßenfesten denken, als wir noch Kinder waren, wie sie sich immer mit anderer Leuts Ehepartnern zusammendrängten, heimlich rauchten wie die Teenager, etwas zu eng tanzten, leere Bierflaschen liegen ließen und durch die Gärten stolperten. Was verheiratete Leute eben so tun. Ihre Ehefrauen und Ehemänner sollen den strengen Elternteil raushängen lassen, damit sie selbst das ungezogene Kind spielen können. Ist es denn so wundervoll, jung zu sein, dass sie gar nicht anders können, als immer wieder so zu tun als ob? Ich kann nichts Wundervolles daran finden.
Nachts im Bett denke ich darüber nach, wie es immer war. Zweimal am Tag, fünfmal die Woche, das ganze Schuljahr über, gingen, rannten, fuhren Evie und ich mit unseren Fahrrädern an den großen Fenstern der All-Risk-Versicherung vorbei, und Mr. Shaw war dort. Mr. Shaw war immer dort. Sah mit seinen traurigen Augen hinaus.
Er sieht so traurig aus, sagte Evie einmal. Mir schaudert, als ich jetzt daran denke.
Er ist so traurig, sagte sie. Wir sahen das Schild im Fenster an. Lebensversicherung, Feuerversicherung, Überschwemmung. Bestimmt hört er den ganzen Tag traurige Geschichten.
Er sieht immer aus, als wäre sein Hund gestorben, sagte sie, und ich musste lachen, aber Evie lachte nicht.
Nach der Krisensitzung des Eltern-Lehrer-Ausschusses ist alles anders. Es gibt lauter Durchsagen von Lehrern und vom Direktor, mit ernster Stimme. Neue Regeln.
»Die totale Überwachung«, stöhnt Joannie.
Wir sind in der Turnhalle eingesperrt, die Fenster sind in Schlammgrün mit »Go Celts!« vollgeschrieben, wir warten.
Meine Beine zittern immer noch vom Sport, dieses schmerzhafte Gefühl von Dehnung, das so herrlich ist – als würde mein Körper gleichzeitig in fünf verschiedene Richtungen gezogen und sich dann wieder zusammenziehen, kraftvoll und herrlich.
Es hält nie an.
Manchmal liegen Evie und ich zusammen auf dem Fußballfeld und ziehen uns gegenseitig an den Beinen, so fest wir können, bis wir das Gefühl haben, zerrissen zu werden. Ich bin fünf Zentimeter größer als Evie, und sie meint, das liegt nur daran, dass sie stärker ist und fester ziehen kann, und die fünf Zentimeter hätte ich nur ihr zu verdanken.
Wir Mädchen fliehen vor dem Lärm der Jungs beim Basketball in eine Ecke auf der Tribüne und tun so, als würden wir ihr heiseres Geschrei, ihre nackten Beine, ihre ganze Anwesenheit gar nicht wahrnehmen.
Ab und zu spielen wir FLAME, ein unglaublich kompliziertes Spiel, bei dem man die Vokale in seinem eigenen Namen und in dem eines Jungen zusammenrechnet, dann erhält man eine Zahl und muss die Buchstaben im Wort FLAME durchzählen. Man streicht die ›Treffer‹ durch, bis nur noch ein
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