Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)
er.
Ich nehme es und ziehe die Folie stramm.
»So ist das«, sagt er und bohrt den Finger hindurch. Ein fieses Loch, geradewegs durch die Folie.
»Da werden sie sie wieder zusammenflicken«, sagt er und zupft sich die Folienreste von den Fingern. »Sie wird schon wieder.«
Aber die haben doch alle nicht recht. Das kann nicht sein. Weil ich es weiß. Weil Dusty es auch gesagt hat, auch wenn sie es nicht versteht.
Mr. Shaw hat gewartet, gehofft und sich in Evies nächtliches Zimmer geträumt, und das hat er alles nicht getan, um ihr wehzutun, sondern um allen Schmerz der Welt zu lindern.
Nacht für Nacht stand Evie am Fenster, die Hand an der Scheibe, und schaute zu dem Birnbaum im dunklen Garten hinunter. Und sah ihn dort.
Evie hat Mr. Shaws Liebe gespürt, und welches Mädchen würde dieser Liebe nicht früher oder später nachgeben, und ihren sanften Versprechungen? Ein Mann, der dreimal so alt ist wie sie, der die Welt gesehen hat und sich auskennt, und der vor allem weiß, dass sie das wundervollste Mädchen von allen ist? Sie ist ihm alles, und er gibt für sie sein Leben auf. Er gibt es auf, weil nur ein Blick von ihr ihn heilen kann, ihn retten kann. Sie hat diese Macht. Welches Mädchen hätte diese Macht nicht gern?
Es ist sieben Uhr abends, und die Ververs sind endlich zu Hause. Mr. Verver ruft meine Mutter an und sagt, wenn ich rüberkommen und Evie besuchen wollte, dann würde er sich sehr freuen.
Meine Mutter sagt, ich soll warten, bis sie Brownies gebacken hat, aus der Backmischung, die seit Halloween auf dem Kühlschrank steht.
Ich bringe sie in der schweren Glasform rüber. Mrs. Verver macht auf und hält mir mit dem Fuß die Tür auf.
»Hi, Lizzie«, sagt sie mit kratziger Stimme.
Es ist so ungewohnt, sie zu sehen, dass ich gar nicht weiß, was ich sagen soll.
»Hi«, bringe ich heraus und reiche ihr die Glasform.
Sie nimmt sie in ihre knochigen Hände, und wir sehen beide auf die Brownies hinunter, ihre Oberfläche ist rissig wie aufplatzender Putz.
»Wie geht’s …«, sage ich, und höre dann einfach auf. Mein Blick gleitet zur Treppe hinter ihr, dem flauschigen blauen Teppich, den ich so gut kenne. Zwei Türen bis zu Evies Zimmer.
Als ich mich wieder Mrs. Verver zuwende, ist sie schon auf halbem Weg in die Küche.
Wir sind dir sehr dankbar, glaube ich sie murmeln zu hören, die Stille des Hauses verschluckt ihre Stimme.
Ich setze den Fuß auf die unterste Treppenstufe. Das Haus ist so still. Ich höre, wie Mrs. Verver die Glasform auf die Küchenarbeitsplatte stellt.
Ob Mr. Verver da ist? Er ist bestimmt wieder bei der Polizei.
Ich hole tief Luft und krieche die Treppe hinauf.
Alle Türen sind geschlossen, ich stehe vor Evies.
Ich stehe da, mein Fuß schlüpft aus dem Flipflop, meine Zehen spielen mit dem Teppich. Ich stehe da und ich stehe da und ich stehe da, mein Herz donnert wie eine Kanone. Es bringt die Wände des Hauses zum Wackeln. Als könnte es das ganze Haus niederreißen.
Ich klopfe.
»Ja«, sagt eine Stimme, und, mein Gott, es ist wie schon tausendmal und wie noch nie zuvor.
Das ist der Teil, den man sich nicht vorstellen kann. Wenn ich zögere, werde ich es nicht mehr fertigbringen, der Moment wird zu groß, der größte meines Lebens.
Ich mache die Tür auf.
Ich mache die Tür auf, und dabei blitzen alle möglichen Bilder hektisch in meinem Kopf auf, irgendwie erwarte ich eine Szene wie in den Büchern über »Wahre Verbrechen« in der Drogerie. Ich rechne damit, Evie ausgebreitet daliegen zu sehen, blutige Laken und Thermometer und Damenbinden und Wattebäusche und mit diesem Geruch von gefallenem Mädchen in der Luft.
Aber ich öffne die Tür und sehe nur das aufgeräumte Zimmer, das ich so gut kenne, das Fußball-Mobile bewegt sich sanft, das Bett ist ordentlich gemacht, die Ecken untergeschlagen, die Gelenkleuchte über dem Schreibtisch.
Und Evie.
Nicht mehr der Geist, die Spukgestalt.
Evie, die sich über den Schreibtisch beugt, einen Bleistift in der Hand, der rosa Radiergummi hüpft beim Schreiben auf und ab.
Wenn ihre Haare nicht so fremd wären, diese grellen weizenfarbenen Strähnen, die zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden sind, könnte man meinen, es wäre überhaupt nichts geschehen.
»Ich muss so viel nachholen«, sagt sie und sieht dann zu mir. Sie trägt ihre alten Jeans aus der Grundschule und einen Pullover von Dusty, der ihr fast bis in die Knie hängt. »Aber wahrscheinlich versetzen sie mich trotzdem, wenn ich die letzten
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