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Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Titel: Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan Abbott
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Arbeiten noch nachschreibe. Wann haben wir das mit den Polynomen gemacht?«
    Einen Moment lang glaube ich, ich bin verrückt geworden. Oder sie.
    Aber dann macht etwas in mir klick und geht zu, und ich schiebe alles Große und Wichtige beiseite. Ich habe das Gefühl, dass sie es so möchte, und plötzlich möchte ich es auch.
    »Keine Ahnung«, sage ich, lasse mich auf ihr Bett sinken und tue so, als wäre es ein Tag wie jeder andere, irgendein Tag, an dem Evie wegen Grippe oder Magenschmerzen nicht in der Schule war.
    »Ich kann mich nicht konzentrieren«, sagt sie und reibt sich mit dem Radiergummi am Ende des Bleistifts über die Unterlippe. »Sie haben mir so Pillen gegeben.«
    »Tut es weh?«, frage ich und starre auf die blassen, gelblichen Flecken an ihrem Hals, die aussehen, als wäre sie sich mit Textmarker über die Kehle gefahren.
    Sie spielt mit dem Bleistift herum. »Mir tut nichts weh«, sagt sie, und in ihrem Auge zuckt etwas, und ich will, dass es aufhört, ich will, dass wir weitermachen.
    »Du siehst gut aus«, sage ich. »Für so’n Häufchen Elend.«
    Sie grinst, und ich grinse zurück. Ich entspanne mich langsam, die Zeit wird zurückgedreht.
    »Bestimmt darfst du jetzt essen, was du willst«, sage ich. »Und die ganze Nacht Fernseh gucken.«
    Sie nickt und lächelt. »Keiner traut sich, auch nur Buh zu sagen«, sagt sie. »Keine Pflichten, kein Training, kein gar nichts. Als hätte ich Pfeiffersches Drüsenfieber.«
    »Dann küss mich«, sage ich und trete ihr leicht vors Bein, »dann kann ich auch den ganzen Tag faul rumliegen.«
    Sie sieht mich an und ihre Knöchel werden weiß um den Bleistift.
    »Am liebsten würde ich sterben«, sagt sie. »Ich will sterben.«
    Wir liegen auf ihrem Bett und starren an die Decke.
    Die Grillen sind so laut, als wären sie bei uns im Zimmer, aber ich merke, dass sie sich freut, sie zu hören.
    »Schlaf hier«, sagt sie, und ich sage Ja.
    Sie steckt ihre Hand in meine, unsere Finger verschränken sich eng.
    Ich warte darauf, dass sie erzählt.
    Ich warte und warte.
    Aber sie liegt nur da, atmet unregelmäßig, ihre Beine zucken, und sagt nichts.
    Ich wache sehr früh auf, aber Evie ist schon weg.
    Einen Sekundenbruchteil bin ich sicher, dass sie jetzt für immer weg ist.
    Dann liege ich da, sehe zu ihrem Mobile und dem vertrauten feuchten Riss an der Decke hinauf und bekomme das Gefühl, mich in Evie hineingeträumt zu haben, und dass sie deswegen weg ist, weil ich hier bin, und wenn ich in den Spiegel gucke, werde ich ihr versteinertes Gesicht sehen.
    Aber dann höre ich Wasser rauschen und entfernte Frauenstimmen. Ich ziehe meine Shorts an und gehe den Flur hinunter.
    Durch die halb offene Badezimmertür sehe ich im Wasserdampf Mrs. Verver mit Küchenhandschuhen, an denen brauner Matsch klebt, die Packung mit dem Haarfärbemittel liegt aufgerissen auf dem Boden.
    Evie ist auf den Knien, über die Badewanne gebeugt, das gebleichte Haar hängt ihr vor dem Gesicht wie Birkenrinde.
    Ich stehe da, ganz still, eine Hand an der Wand, Wasser rinnt aus dem Wasserhahn, und ich sehe zu, wie Mrs. Verver, jetzt ebenfalls auf den Knien, das braune Zeug aus der Plastikflasche in Evies Haare schmiert. Evie bedeckt mit den Händen ihr Gesicht, ihre Augen, Mrs. Verver kauert hinter ihr und drückt sich an ihren Rücken.
    Mrs. Ververs Körper erschaudert, ich kann ihr Gesicht nicht sehen, weil es hinter Evies nassem Haar verschwindet, aber ich weiß, dass sie weint. Sie hält sich mit den braunen Matschhandschuhen an Evies Rücken fest und weint.
    Das Wasser gurgelt immer weiter, Evie dreht den Kopf und sieht mich an, sieht mich an.
    Sie sieht mich an, und ich sehe ihr Gesicht und die Erschöpfung darin. Die Erschöpfung von jemandem, der in ein paar Wochen ein Jahrhundert oder mehr gelebt hat, der alles gesehen hat und den nichts mehr überrascht.
    Evies Gesicht ist voller Worte, und ich sehe, was sie sagt: Mach, dass sie aufhört. Mach, dass sie aufhört. Warum hört sie nicht einfach auf?

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    20.
    W ir verbringen den ganzen Tag zusammen, Evie und ich. Ich flechte ihr Zöpfe. Sie sind braun, aber nicht eviebraun, und sie fühlen sich immer noch komisch an, weich und fusselig wie Puppenhaare. Mit den geflochtenen Zöpfen sieht sie aber schon mehr wie Evie aus, und sie fühlt sich auch langsam wieder an wie Evie.
    Mr. Verver fährt mit uns ins Schwimmbad. Er sagt immer wieder, dass er das eigentlich nicht darf, dass er Evie wieder zu ihrer Therapeutin bringen

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