Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)
auch hört, und weiß, dass sie das tut, und dass sie sich fragt, was ich getan habe. Was ich getan habe. Sie ins Haus zurückzustecken, zu Dusty, zu allem, was sie hinausgetrieben hat.
Aber ich habe sie gerettet, oder? Ich habe die Beweise zusammengesucht, die Brotkrumenspur verfolgt. Also habe ich sie ja wohl gerettet, oder? Vor ihm gerettet?
Wenn die Dinge anders gelegen hätten, hätte Mr. Shaw sie vielleicht nicht angerührt. Vielleicht wäre er sein ganzes Leben nicht aus dem Schatten getreten. Nie weitergegangen als auf den Schulhof, um ein paar Worte zu wechseln. Aber dann ist es passiert, und sie ist zu ihm gerannt, und dann konnte er nicht mehr aufhören.
Daraus habe ich sie doch gerettet?
Sie zurückgebracht, wiedergeholt … wieder in das Haus geholt, in dem sie jetzt liegt, nur durch eine hauchdünne Wand von ihrer Angreiferin getrennt, von dem Mädchen, das ihr den Hals zugedrückt hat, so fest, dass sie beinahe das Leben aus ihr rausgedrückt hätte.
Soll ich das alles so weiterlaufen lassen? Soll ich beide Schwestern ihre dunklen Geschichten für sich behalten lassen, ihre schwarzen Geheimnisse? Oder soll ich alles sagen, das Innerste dieses bezaubernden, lichtdurchfluteten Haushalts nach außen kehren, die Geheimnisse offenlegen?
Ich war mittendrin, im Fahrtwind der ganzen Geschichte, und habe Dinge gesehen. Ich habe das gewaltige Herz der Sache gesehen.
Sie haben ihre Entscheidungen getroffen, beide Schwestern. Keine der beiden würde etwas sagen. Keine würde es jemals erzählen.
Sie haben entschieden, was ihnen wichtig ist. Und das ist Mr. Verver, das ist er. Der, der er war, und der, den sie sich vorstellen, und vielleicht ist das auch derselbe.
Sie haben ihre Entscheidung getroffen, die Brücke hochgezogen, hohe Mauern errichtet, und wer bin ich denn, mich da einzumischen? Wer ist die Polizei oder sonst wer, sich da einzumischen? Diese golden schimmernde Familie vor sich zu sehen und ihren problembeladenen Kern, und zu sagen, sie wüssten es besser, und diesen schönen Traum zu zerstören?
Diese beiden Mädchen, nicht so sehr Prinzessinnen als vielmehr Palastwachen, opfern alles, um ihren edlen König zu beschützen. Hoch oben in seinem Turm. Mit goldenen Wänden, unbefleckt.
Ich gehe raus, auf die Veranda, und beobachte sie. Da ist er und hält Hof, Dusty thront an seiner Seite, die Beine untergeschlagen.
Ich beobachte sie so lange, bis er mich entdeckt.
Er steht so schnell auf, dass ich fast einen Herzinfarkt kriege.
Sein Gesicht wirkt so warm, dass sofort alles wieder da ist.
Ich gehe ein paar Schritte auf ihn zu.
Er ruft meinen Namen und streckt mir den Arm hin, die Hand, sein Gesicht ist so offen und bereit und einladend.
Sie lächelt auch, die großmütige Siegerin lächelt ihre ehemalige Rivalin an, und die beiden sehen sich so ähnlich, wenn sie lächeln, sie strahlen so viel aus, dass es mir den Atem raubt.
Er breitet die Arme aus.
Nimm sie, sagt er, die Hand ausgestreckt. Oh, Lizzie, nimm sie.
Es ist Sonntagmorgen, und Dr. Aiken ist Mandelteilchen holen gegangen. Ich schleiche mich ins Zimmer meiner Mutter, und sie hebt die Arme und sagt: komm zu mir ins Bett, meine Kleine, wie früher, als ich noch sehr klein und süß war.
Wir liegen unter der bauschigen weißen Decke mit den Satinpaspeln, die ich zwischen den Fingern reibe, und das beruhigt mich.
Ich könnte ewig liegen bleiben.
»Nächste Woche geht’s in die Highschool«, sagt sie und lächelt mich an.
»Yeah«, sage ich. Highschool, das kommt mir gar nicht mehr wie so eine große Sache vor, nach allem, was passiert ist.
»Ich habe gehört, Mrs. Shaw und ihr Sohn sind weggezogen«, sagt sie zögernd. »Ganz bis Point Cleary.«
In meiner Schläfe zuckt etwas, und ich drücke dagegen.
»Komisch«, sagt sie, »ich war ihm immer so dankbar.«
»Dankbar?«, frage ich. »Wem?«
»Oh, daran erinnerst du dich bestimmt nicht. Du warst noch ganz klein, es war am Green Hollow Lake. Du und Evie, mein Gott, ich sehe euch noch in euren Badeanzügen im Partnerlook. Evie hatte Schwimmflügelchen, aber dich hatte dein Dad auf die Luftmatratze gesetzt, und ihr hattet Spaß. Dann kam ein Motorboot vorbei und wuusch!«
Sie fegt mit dem Arm über die Decke.
»Du bist ins Wasser gefallen, und Harold Shaw war sofort da. Er hat dich rausgefischt, und ich erinnere mich noch genau an dein kleines Gesicht, deine Augen waren so groß wie Untertassen. Du hast dich ganz fest an ihn geklammert.«
»Das war doch Mr. Verver«,
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