Das Ende der Welt
Erinnerungskarte.
Chang senior war Constances Leibarzt gewesen, seit die zwei sich viele Jahre vor meiner Geburt in Los Angeles kennengelernt hatten. Er hatte Nick ausgebildet, und nun war Nick mein Hausarzt. Die Changs hatten traditionelle chinesische Akupunktur und Kräuterkunde im Angebot, unter anderem. Über einige dieser »anderen« Methoden wurde ich aufgeklärt, über andere nicht.
Die Changs besaßen ein Haus, das meinem Apartmentgebäude ähnelte. Das ihre lag im Waverly Place, einer Art Gasse, die an guten Tagen hell und sonnig war. Sie wohnten über der Praxis, jede Generation in einer eigenen Wohnung, und praktizierten im Erdgeschoss. Die Praxis sah aus wie alle Naturheilkundepraxen in Chinatown: große Holzkommoden mit zahlreichen Schubfächern für die Kräuter, verstaubte Regale voller handelsüblicher Medikamente, dazu ein paar Patienten, die auf eine Rezeptur oder einen Arzttermin warteten oder einfach nur den guten Duft chinesischer Heilmittel einatmen wollten.
Ich trat ein. Hinter dem Tresen stand eine der Helferinnen. Ich kannte sie, sie hieß Mei. Sie arbeitete schon ewig für Nick, und ich rechnete damit, dass er sie irgendwann heiraten würde. Sie war ein gutes Mädchen, intelligent, freundlich und kompetent. Nick ging inzwischen auf die fünfzig zu, er war etwa zehn Jahre älter als ich. Zwar gehörte er zu den Männern, die Frauen lieben und Sex und die sich immer wieder neu verlieben wollen; aber auch ihn ereilte langsam das Alter, in dem es verlockend erscheint, sich auf eine Frau festzulegen. Einmal hatte es eine Frau gegeben, die anders gewesen war, Carrie. Ich hatte sie kennengelernt. Sie war halb Chinesin, halb Amerikanerin, und ihre Familie lebte seit Ewigkeiten in San Francisco. Sie weigerte sich, Chinatown zu betreten. North Beach war unter Carries Würde. Sie und Nick hatten ein gemeinsames Kind, aber die Beziehung ging in die Brüche, und Carrie heiratete bald darauf einen reichen Geschäftsmann aus ihrer Gegend. Ich vermutete, dass Nick sie immer noch liebte. Der Junge war mittlerweile zehn Jahre alt, und wann immer seine Mom nicht aufpasste, sprang er in Nob Hill in den Bus und fuhr allein nach Chinatown. Ich fand das gut.
Mei trug ein hübsches, schwarzes Kleid, ein bisschen zu viel Make-up und schwarze Kellnerinnen-Clogs. Sie stand hinter dem Tresen und hatte das Kinn in die Hand gestützt. Dass sie arbeitete, sah man ihr nie an; ich hatte jedoch gehört, sie sei ein Genie.
»Hallo, Claire«, sagte sie. Sie war hier geboren und sprach besser Englisch als Chinesisch. »Nick möchte Sie sehen.«
»Das habe ich gehört«, sagte ich.
»Das mit Ihrem Freund tut mir leid«, sagte sie. »Können wir irgendwas für Sie tun?«
»Nein«, sagte ich, »danke. Wie geht’s?«
»Gut«, antwortete sie. »Nicht viel los heute.«
»Braucht Nick noch lange?«, fragte ich.
»Kann sein«, sagte sie. »Henry ist gerade bei ihm.«
Henry war Nicks Sohn.
»Tun Sie mir bitte einen Gefallen«, sagte ich.
»Klar«, sagte sie.
»Geben Sie mir mal die Ölkanne unter dem Tresen.«
Mei lächelte, bückte sich nach der Kanne und reichte sie mir. Die Eingangstür quietschte höllisch laut, und ich hätte wetten können, dass es um den großen Papierschneider, den sie brauchten, um das Einwickelpapier für die Kräuter zu zerteilen, nicht besser stand. Ich testete ihn und stellte fest, dass ich mich nicht geirrt hatte. Gott bewahre, dass sich ein Chang die Finger schmutzig machte. Ich war hier offenbar das Mädchen für alles. Ich ölte den Papierschneider und stellte mich dann auf einen Stuhl, um an die Türangeln zu kommen. Eigentlich brauchte die Praxis einen neuen, sichereren Eingangsbereich, aber den würde es erst geben, wenn ich mich persönlich darum kümmerte. Vielleicht hätte ich irgendwann einmal einen freien Samstag, um wenigstens das Türblatt auszutauschen.
Mei ging nach hinten, um dem alten Chang auf Chinesisch zuzurufen: »Claire ist hier. Sie hat die Tür geölt. Kommen Sie und bedanken Sie sich!«
Der alte Mann kam lächelnd heraus. Er schlurfte und schaffte etwa einen Schritt pro Stunde. Er war älter als alt. Nie hatte ich einen Menschen so viel lächeln sehen.
»Claire DeWitt«, sagte er auf Chinesisch, »welch ein Vergnügen. Gestern Nacht habe ich von Constance geträumt.«
»Was hat sie gesagt?«, fragte ich und spürte einen Druck auf dem Herzen: Ich hoffte auf eine geheime Botschaft, auf ein wenig Zuneigung, vielleicht auf die Auflösung des Falles des Kali
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