Das Ende der Welt
Musik, ihren Verstand und ihr gutes Aussehen, um zu bekommen, was sie wollte. Sie hätte Paul nicht umbringen müssen, um an sein Geld zu kommen. Hunderte Männer hätten ihr Geld gegeben, sie hätte nicht einmal darum bitten müssen. Sie hätte nichts weiter tun müssen, als die zahlreichen Angebote nicht auszuschlagen. Abgesehen davon lebten sie und Paul nicht auf großem Fuß. Abgesehen von dem Haus im Mission District, das eine Milliarde Dollar wert war, lebten sie so wie alle anderen auch, nur dass sie dabei nicht von Geldsorgen geplagt wurden.
Ich war natürlich auf denselben Gedanken gekommen. Die Ehefrau ist immer die erste Verdächtige, aus gutem Grund. Aber in diesem Fall ergab es keinen Sinn. Es war unlogisch. Lydia zog keinerlei Vorteil daraus. Hätte sie ihn verlassen wollen – und das wollte sie bestimmt nicht –, hätte er in die Scheidung eingewilligt und sie großzügig abgefunden.
Paul hatte mir über seine Schwester nur Schlechtes erzählt. Er hatte sie einige Male erwähnt: Sie lebte in »dieser verdammten Villa« in Connecticut. Sie war mit »so einem Idioten von Goldman Sachs« verheiratet. Wenn man ihn auf dem falschen Fuß erwischte, konnte Paul richtig gemein sein. Wie die meisten Menschen war auch er nicht stolz auf seine Herkunft. Investmentbanker und Spendensammler, Frauen mit blondiertem Haar und perfekten Zähnen. Privatschulen und Eliteuniversitäten. Das Ghetto der Reichen, abgeschottet und eng.
Ich sagte Emily, ich würde drüber nachdenken. Was ich nicht sagte, aber andeutete, war, dass die Welt nach dem Tod eines geliebten Angehörigen immer finster aussieht, dass man natürlich nach einfachen Erklärungen sucht, die sich aber fast immer als irrig erweisen. Ich setzte sie auch darüber in Kenntnis, dass ich den Fall ohnehin bearbeitete. Sie würde mich weder bezahlen noch überreden müssen. Paul war ein Freund gewesen, ein lieber Freund, und ich würde seinen Mörder finden.
Ich sagte ihr auch, dass ich Lydia für unschuldig hielt. Der Fernseher über dem Tresen am hinteren Ende des Lokals war auf den Kanal der Erleuchteten Meisterin eingestellt, und über den Bildschirm flimmerte eine Ansprache der Erleuchteten Meisterin an die Welt. Sie hatte gebleichtes Haar und trug einen Anzug, der aussah wie von Macy’s. Der Ton war abgestellt, und über den unteren Bildschirmrand zogen Untertitel in einem Dutzend Sprachen:
Die Wahrheit wartet auf euch. Leben ist Glück, und Glück ist Dienst.
»Wissen Sie, genauso reagieren die Leute, wenn ein Kind stirbt«, sagte ich, »wenn es in einem Pool ertrinkt oder so. Am nächsten Tag wird ein Gesetz erlassen, das Pools verbietet oder Bademeister und hohe Zäune vorschreibt. Aber dadurch lebt niemand sicherer. Verstehen Sie, was ich sagen will?«
Emily sah mich an. Die unterdrückten Tränen ließen ihre Augen anschwellen.
»Ich glaube, Lydia hat Paul umgebracht«, platzte es aus ihr heraus, »ich glaube, Lydia hat meinen Bruder wegen seines Geldes umgebracht, und ich …«
Sie fing zu weinen an und konnte nicht weitersprechen. Ich wandte mich wieder meinem Essen zu und dachte nicht mehr an Paul und an den Grund für Emilys Tränen. Ich hatte dichtgemacht.
Schließlich stand Emily auf und ging. Sie weinte immer noch. Ich beobachtete durch die Fensterscheibe, wie sie weinend auf der Stockton stand, verwirrt und am Boden zerstört. Niemand blieb stehen, um zu helfen. So groß war San Francisco nicht, aber die Leute hier taten gern so, als lebten sie in einer Großstadt und hätten keine Zeit für Mitgefühl. Die Eltern von Emily und Paul waren schon vor langer Zeit gestorben. Paul war Emilys einziger Angehöriger gewesen.
Ich starrte auf mein falsches Hühnchen und aß es mit täuschend echtem Appetit.
Nach dem Essen knackte ich meinen Glückskeks.
Sie stehen am Anfang eines großen Abenteuers,
versprach der Glückskeks.
Der Weg ist steinig, aber Sie haben die ganze Welt auf Ihrer Seite.
Geben Sie niemals auf.
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8
A n jenem Abend ging ich in Nick Changs Praxis, um mich durchchecken zu lassen. Wochenlang hatte er mir in den Ohren gelegen, wie ein Zahnarzt, der einem kleine Erinnerungskärtchen schickt. Bloß dass ich um die Ecke von Nick wohnte und jedes Mal, wenn ich an seiner Praxis vorbeilief, eine junge Arzthelferin oder Assistentin, oder wie auch immer der nächste Dienstgrad hieß, herauskam und in gebrochenem Englisch zu mir sagte: »Dr. Chang will Sie sofort sehen! Heute!« Gewissermaßen die menschliche Ausgabe der
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