Das Ende der Welt
Yuga.
»Mohn!«, sagte er. »Mei und ich behandeln eine Tuberkulosekranke. Constance hat vorgeschlagen, es mit Mohn zu versuchen.«
Er lachte, aber sein Lachen verebbte, und er sah mich an. Er sah genau hin, so, wie es nur ein chinesischer Arzt tut.
»Was ist passiert?«, fragte er. Nun lächelte er nicht mehr.
Ich schlug die Augen nieder. »Jemand ist gestorben«, sagte ich. »Aber es geht mir gut.«
Er schüttelte den Kopf und betrachtete mich mit großem Mitleid.
Nick und sein kleiner Sohn kamen aus dem Sprechzimmer.
»Hey«, sagte ich zu Nick, und zu dem Jungen: »Hallo, Kleiner!«
Nick lächelte. »Sag Claire guten Tag«, sagte er. Der Junge war schüchtern und wand sich. Er sah seinen Vater an. Alle lachten.
Mei bot sich an, den Jungen nach Hause zu fahren, und Nick nahm mich mit in sein Sprechzimmer. Ich setzte mich auf die Untersuchungsliege, und er machte sich daran, meinen Puls zu fühlen.
»Wer ist gestorben?«, fragte er.
»So ein Typ«, sagte ich. Ich wollte nicht darüber reden. Nick verstand und wechselte das Thema.
»Deine Leber ist überhitzt«, sagte er. »Nimmst du noch die Kräuter?«
»Nein«, sagte ich. »Sie schmecken schlecht. Außerdem machen sie mich benommen.«
»Genau«, sagte er, »benommen sein kannst du nicht leiden. Bitte nach oben schauen.«
Ich verdrehte die Augen, und er betrachtete sie. Danach betrachtete er meine Zunge.
»Was ist los?«, fragte er. »Deine Lunge ist überhitzt und vergiftet. Um deine Leber steht es so schlecht wie immer. Und dein Herz ist schwach.«
»Nichts ist los«, sagte ich. »Ich werd die Kräuter wieder nehmen.«
Er warf mir einen ernsten Blick zu. »Sicher, dass du nicht darüber reden möchtest?«
»Da gibt es nichts zu reden«, sagte ich. »Da ist einer gestorben. Ein neuer Fall.«
Nick zog eine Augenbraue hoch.
»Wenn du darüber reden möchtest«, sagte er, »bin ich hier.«
Er stellte mir ein neues Kräuterrezept aus, das eine Praktikantin hinter dem Tresen für mich anmischte, Blätter und Zweige und Muscheln, aus denen ich mir Tee kochen sollte. Wäre ich klug, hätte ich Nick geheiratet. Nach Carrie hatten wir eine kurze Affäre. Ich hätte die Detektivarbeit an den Nagel hängen und mich auf Kräuter konzentrieren sollen. Aber wenn ich klug wäre, hätte ich vieles in meinem Leben anders gemacht.
Ich war nicht auf der Welt, um klug und glücklich zu sein. Ich war auf der Welt, um eine Detektivin zu sein und Rätsel zu lösen.
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9
P aul konnte nicht stillsitzen. Immerzu trommelte er mit den Fingern auf etwas herum, nickte, sprang auf, setzte sich wieder. Er fühlte sich wohl in seiner Haut, schien aber vor Energie fast zu bersten. Er strahlte eine Gelassenheit aus, von der ich vermutete, dass sie hart erarbeitet war. Er kannte sich gut genug.
Bei unserer zweiten oder dritten Verabredung saßen wir in einem Café an der Valencia Street.
»Die nehmen ihren Kaffee viel zu ernst«, sagte Paul, und er hatte recht. Bevor man seinen Kaffee bestellen durfte, musste man die gesamte Karte lesen und tausend Fragen beantworten. Wir bestellten den zu ernsten Kaffee und setzten uns. Irgendwie kam das Gespräch auf New Orleans. Ich erzählte ihm, dass ich dort gelebt hätte, aber seit Jahren nicht mehr dort gewesen sei.
»Mit der Stadt ist es doch so«, sagte Paul, »ehe man sich’s versieht, ist man im Vergnügen ertrunken. Wenn man sich von der Kriminalität nicht stören lässt, kann man sich sein Leben zurechtträumen, wie es einem gefällt.«
Wäre ich in der Lage gewesen, mir einen Paul zu erträumen, wäre er genau so gewesen. Und dann sagte er: »Hey«, und beugte sich vor und küsste mich. Nicht zum ersten Mal, und dennoch fühlte es sich neu an. Nach etwas, das ich nie gefühlt hatte oder zumindest seit langer Zeit nicht. Nur ein Kuss, und dann waren wir wieder beim Kaffee.
»Du lächelst«, sagte er. Er wirkte ein bisschen schüchtern, und ich starrte in meinen Kaffee und fragte mich, ob wir jetzt beide rot wurden. Und ich dachte:
Weil du mich zum Lächeln bringst,
aber ich sagte nichts.
Aber die Atmosphäre blieb seltsam, so als hinge eine Regenwolke über uns. Es war wie in einem Kinofilm, wo das Pärchen so glücklich und lebendig aussieht; dabei wusste man schon, als man an der Kasse das Ticket gekauft hat, dass es hier nicht um Liebe geht, sondern um Mord.
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10
L ydia veranstaltete eine Beerdigung im engsten Familienkreis. Sie ließ Paul auf einem Friedhof im Sonoma County bestatten, ganz in der Nähe
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