Das Ende der Welt
werden.
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11
H allo, hier spricht Claire. Ich, äh …«
Am Abend, als ich endlich wieder zu Hause war, steckte ich mir einen Joint an und nahm eine Oxycodon aus meinem Vorrat an Schmerzmitteln, den ich für echte Notfälle angelegt hatte.
»… habe mich gefragt, ob bei dir alles okay ist. Und ich dachte mir … Ich dachte, vielleicht willst du ja nach San Francisco kommen?«
Ich hatte Andray in New Orleans kennengelernt, wo ich den Fall des grünen Papageien bearbeitet hatte. Wann immer mitten in der Nacht das Telefon klingelte, dachte ich:
Andray,
mein Magen drehte sich um, und ich fürchtete, ultimativ, endgültig und unverzeihlicherweise versagt zu haben. Andray war brillant, er war inzwischen dreiundzwanzig Jahre alt und hätte bei jedem Detektiv auf der Welt in die Lehre gehen können, einschließlich mir. Aber er schaffte es einfach nicht, sich von seinem Leben in New Orleans zu lösen, von den Drogen, den Waffen, den Mädchen, der Ersatzfamilie, die nie für ihn da war, außer wenn Geld hereinkam. So wie Kelly war Andray überzeugt, sein Schicksal zu kennen. Aber ich wusste: Die Worte, die seinen Lebenssatz bildeten, ließen sich noch umstellen.
»Ich könnte Hilfe gebrauchen. Ich dachte ja nur, falls du auf der Suche nach einem Job bist.«
Ich hatte Constance gehabt. Vernünftig, weise, auf ihre eigene Art liebevoll und rein, hatte sie mich ans rettende Ufer gebracht. Andray hatte nur mich, Claire DeWitt, die in diesem Moment an ihrem Küchentresen stand und mit dem Griff eines stumpfen Messers eine Oxycodon zerdrückte.
Ich legte auf. Andray rief nicht zurück.
»So viele Mädchen sind verschwunden, verdammt«, schrieb der alte Silette in seiner Verbitterung an Constance, »aber meine eigene Tochter kann ich nicht finden. Wenn man darüber einen Krimi schreiben würde, er wäre zu dumm, um ihn zu lesen.«
»Ein weiser Mann«, schrieb Constance zurück, »hat mir einmal gesagt, dass es immer eine Lösung gibt. Die Grenzen der Wahrheit liegen außerhalb der Grenzen der menschlichen Auffassungsgabe.«
»Schluss mit meinen Plattitüden«, antwortete er. »Betrachte alles, was ich jemals gesagt habe, als Lüge und Irrtum. Ich habe mich getäuscht, und ich bereue jedes Wort. Es gibt nur Leere und Schmerzen, alles andere ist egal.«
Ich rauchte den Joint und schaute für den Rest des Abends die
Mord ist ihr Hobby-
Kriminacht an. Das verdammte Cabot Cove hatte eine höhere Mordrate als alle sozialen Brennpunkte von Oakland zusammen. Im Morgengrauen hatte Jessica Fletcher mich endlich eingeschläfert. Niemand wusste, dass sie in England George Cukors Zofe gewesen war.
Als ich aufwachte, saß Tracy an meiner Bettkante. Sie war wieder jung, fünfzehn, hatte aber jenen wissenden Blick, den man erst mit dreißig oder vierzig bekommt. Sie saß aufrecht und entspannt, wie eine Erwachsene, nicht wie ein Kind.
»Dein Unwissen«, sagte sie, »ist so groß wie das Meer.«
Ich schaute über die Bettkante. In der Nacht war meine Wohnung überschwemmt worden. Überall schwarze Tropfen, die sich zu einem schwarzen Ozean zusammenschlossen.
Der Wasserpegel stieg.
»Was du nicht siehst«, sagte sie mit schwerem Brooklyn-Akzent, »erhellt den ganzen verdammten Himmel.«
Ich hob den Kopf. Über mir funkelten die Sterne in Gold und Weiß. Sie wirbelten herum und bildeten neue Sternbilder: der Papagei, der Schlüssel, die Waffe, der Ring. Dann ordneten die Sterne sich zu einer langen, undurchdringlichen Mauer an.
Wir saßen in der U-Bahn, unter einem Firmament aus Stahl. Die Sternbilder hatten sich in Graffiti verwandelt: ein Messer, eine Spraydose, eine Taube.
An den Wänden standen Wörter. Tausende.
Ozean
und
Sturm
und
Kofferraum
und
Dolch
und
Mission
und
Nevada.
Tracy saß mir gegenüber. Wir saßen in einem Waggon der Linie RR aus den achtziger Jahren, nächster Halt Atlantic Avenue, Umsteigemöglichkeiten zu …
»Und mit den Wörtern, die du vergessen hast«, sagte sie, »hättest du das ganze verdammte Rätsel längst lösen können.«
Sie zog einen Lackstift aus ihrer Jackentasche und schrieb weitere Wörter an die Wand.
Wahrheit. Schlüssel. Vogel. Ring.
»Welches Rätsel?«, fragte ich.
»Alle«, sagte sie. »Denk mal nach. Der Fall vom Ende der Welt.«
Sie schnipste mit den Fingern, ich fuhr hoch und saß hellwach im Bett.
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12
Brooklyn
H at sie ihre Schlüssel mitgenommen?«
Es war 1986 . Chloe und Reena waren Tracys Freundinnen. Sie waren ein paar Jahre älter als wir.
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