Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Ende der Welt

Das Ende der Welt

Titel: Das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gran
Vom Netzwerk:
des Bohemian Highway, wo Paul ein Haus besaß und einen großen Teil seiner Kindheit verbracht hatte. Er war seit einer Woche tot. Zeitgleich zur Beisetzung fand eine Art Gedenkgottesdienst im Dolores Park statt. Pauls Ermordung hatte im Viertel für Aufsehen gesorgt. Er war sehr beliebt gewesen. Nach seinem Tod kamen seine Geheimnisse ans Licht: Er hatte das örtliche Künstlerkollektiv, das die Parade am Dia de los Muertos organisierte, mit einer beträchtlichen Summe unterstützt. Er hatte noch mehr Geld an einen Verein gespendet, der Kindern die mexikanisch-amerikanische Kultur des Mission-Viertels näherbrachte. Aus seiner Begeisterung für seinen Lieblingsstadtteil hatte Paul nie einen Hehl gemacht. Er wollte ihn so bewahren, wie er war, er wollte verhindern, dass Starbucks und Pinkberries die angestammten Tacobars und Heilkräuterläden verdrängten.
    Ich wusste nicht, wer den Gottesdienst auf die Beine gestellt hatte. Vielleicht niemand. Vielleicht passierte er einfach so. Später konnte ich mich nicht mehr erinnern, wie ich davon erfahren hatte, warum ich an jenem Tag zum Dolores Park gegangen war.
    Etwa hundert Trauergäste waren bereits da. Sie drängten sich um einen provisorischen Altar, den man rund um den Stamm einer riesigen, uralten Lebenseiche errichtet hatte. Von den Ästen baumelten Fotos, CDs, Platten und sogar Musikinstrumente. Jemand hatte ein Bündel kleiner, mexikanischer Totenschädel aus Zucker aufgehängt, ein anderer ein gutes Dutzend Eintrittskarten von Konzerten, die Paul gegeben hatte. Natürlich waren viele Musiker gekommen, und es dauerte nicht lange, bis einer zu spielen anfing. Jeder kannte »Danny Boy«, »Auld Lang Syne«, »When the Saints Come Marching In« und »Will the Circle Be Unbroken«.
    Die Leute weinten, einige brachen zusammen. Pauls Bassist Phil schluchzte. Marianne, die Schlagzeugerin, stand mit in die Hüften gestemmten Armen neben dem Baumstamm und schüttelte wütend den Kopf. Wann immer jemand versuchte, sie zu umarmen, wehrte sie ihn ab.
    Anthony Gides, ein Musikkritiker, der ein großer Fan von Paul gewesen war, bedeutete den Musikern aufzuhören, und dann hielt er eine Rede. Er sprach über Pauls Musik und darüber, wie Paul den Nachwuchs gefördert hatte. Über sein Studium der Roma-Gitarre, seine Leidenschaft für haitianische Trommeln und kubanische Claves. Darüber, wie leer die Welt der Musik ohne ihn sein würde. Über …
    Die Band hob unvermittelt zu spielen an: »Brother, Can You Spare a Dime«. Die auf mehrere hundert Personen angewachsene Menge applaudierte. Nancy O’Brian, eine Keyboarderin, mit der Paul manchmal zusammengearbeitet hatte, kam auf mich zu und umarmte mich. Sie sah erschöpft aus. Wir schwiegen. Josh Rule gesellte sich zu uns, ein Gitarrist, mit dem Paul befreundet gewesen war.
    »Wusstest du, dass er verrückt nach dir war?«, fragte Josh.
    Ich zuckte die Achseln. Jetzt, da er tot war, schien er nach allen verrückt gewesen zu sein; in der Rückschau fing jede Beziehung zu schillern an wie ein kleiner Regenbogen.
    »Ich will hier weg«, sagte Josh plötzlich, »das hier ist schräg.«
    »Ich komm mit«, sagte ich. Wir verließen den Park und liefen bergab. Hunderte Menschen drängelten sich um den Baum. Bald würde einer etwas Unüberlegtes tun, ein anderer würde die Bullen rufen, und morgen würde alles in der Zeitung stehen.
    »Das ist doch krank«, sagte Josh. »Ich kann nicht fassen, dass sie uns nicht zur Beerdigung eingeladen hat.«
    Ich sagte ihm, es wäre mir egal. Wir gehörten nicht zur Familie.
    »Familie?«, sagte er. »
Wir
waren seine verdammte Familie!
Wir!
«
    Ich widersprach ihm nicht. Ich fuhr Josh zu seinem Apartment in Albany nördlich von Berkeley. Als wir angekommen waren, fragte er mich, ob ich noch auf einen Drink raufkommen wolle, und ich sagte ja. Nach einer Beerdigung sind alle auf Sex aus. Der Sex war okay, und danach bestellten wir ziemlich gutes nepalesisches Essen und schliefen bei
Gnadenlose Stadt
vor dem Fernseher ein. Am nächsten Tag verschwand ich so unauffällig wie möglich und ließ Josh schlafend, nackt und allein zurück.
    Er war ein niedlicher, leiser Schläfer. Eines Tages würde er ein wunderbarer Ehemann sein. Als ich in der Stille im Schlafzimmer stand, meinen BH hinter meinem Rücken zuhakte und die kalte Wintersonne meine Augen traf, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken, die Scham drückte mir auf den Solarplexus, und ich wusste: Der Fall würde kompliziert

Weitere Kostenlose Bücher