Das Ende der Welt
Setzlinge aus der Erde. Auf der Lichtung wuchsen gelbe Blümchen und riesige Kleeblätter.
Chloe und ich saßen auf zwei Findlingen am Rand der Lichtung. Wir waren für einen typischen Ausflug in die Stadt gekleidet: Stiefel, Secondhandkleid, Lederjacke. Wir unterhielten uns leise, tauschten im Flüsterton Geheimnisse aus.
Auf einmal war Chloe nackt. Es tat fast weh zu sehen, wie sie auf dem Stein hockte und ihre Knochen sich durch die Haut bohrten. Sie schaute zu Boden. Als sie den Kopf hob, wurde ihr Gesicht schwarz, besser gesagt, trat die Schwärze punktuell hervor, während ihr Gesicht verschwand. Stück für Stück löste es sich auf, und an seine Stelle trat eine schwarze Leere.
Ich rief, wand mich und wachte auf. Ich wusste nicht mehr, ob ich mich Chloe nähern oder vor ihr davonlaufen wollte.
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14
San Francisco
N eunzehn Tage nach Pauls Tod rief mich ein Sanitäter aus New Orleans an. Wenn um drei Uhr morgens das Telefon klingelt und jemand sagt: »Spreche ich mit Miss Clara DeMitt?«, verheißt das nichts Gutes.
»Ja«, sagte ich, »das tun Sie. Ich bin Clara. Clara DeMitt.«
»Miss DeMitt, ich habe schlechte Nachrichten. Schlechte Nachrichten, aber er wird durchkommen.«
Andray,
dachte ich.
Andray ist angeschossen worden.
Stattdessen sagte der Sanitäter: »Clara, Mick Pendell hatte einen Unfall.«
»Unfall?«, fragte ich. »Hat man auf ihn geschossen?«
»Überdosis«, sagte der Sanitäter, »wahrscheinlich mit Absicht. Er liegt im Touro-Krankenhaus.«
Als mir klarwurde, dass Mick mich als seine nächste Angehörige eingetragen hatte, egal vor wie langer Zeit, spürte ich einen Kloß im Hals.
Ich hatte Mick seit New Orleans und dem Fall des grünen Papageien nicht mehr gesehen. Mick hatte für Constance gearbeitet, so wie ich. Bevor er Constance kennenlernte, war Mick auf dem besten Weg gewesen, sein Leben mit Terroranschlägen, Gefängnisstrafen und schlechten Tätowierungen zu ruinieren. Er hatte Aufstände im Nordosten der USA angezettelt und sich an Mammutbäume gekettet. Er hatte Leute aus dem Knast befreit und einen Brandanschlag auf die Villa eines Politikers verübt. Aber es besteht ein feiner Unterschied zwischen kämpfen und für eine gute Sache kämpfen. Mick stahl von den Reichen, um die Armen, zu denen er sich selbst zählte, zu beschenken, bis er eines Tages an Constance geriet. Constance gehörte zu den Reichen – über Generationen hinweg hatten die Darlings es geschafft, immer bei Kasse zu sein.
Constance half Mick einzusehen, dass es kein Gut und Böse gibt. Es gibt das, was wir begreifen, und das, was zu begreifen wir uns weigern. Menschen, von denen wir uns eingestehen, dass wir sie lieben, und solche, die wir nicht erkennen wollen.
Mick war ein Detektiv. Er wusste es, solange er in Constances Nähe war, aber nach ihrem Tod vergaß er es.
Nach dem Telefonat mit dem Sanitäter rief ich im Krankenhaus an. Man stellte mich von einem zum nächsten durch, bis ich irgendwann auf der richtigen Station landete.
»Er ist stabil«, sagte die Schwester. »Wir haben ihm den Magen ausgepumpt.«
»Was hat er genommen?«
»Die Analyse steht noch aus, aber ich tippe auf einen Cocktail. Nimmt er regelmäßig Medikamente?«
Ich nickte. Als mir einfiel, dass sie mich nicht sehen konnte, sagte ich: »Ja.« Ich wusste es nicht genau, glaubte aber, dass er eine bunte Mischung verschrieben bekam: Antidepressiva, Tabletten gegen Angstzustände und Schlaflosigkeit. Er hatte den Hurrikan nicht verwunden.
»Er hatte eine Menge intus«, sagte sie, »aber er wird wieder gesund. Es ist nur … wissen Sie, er sollte sich wirklich mit den Ursachen auseinandersetzen.«
Sie klang geduldig, aber müde. Ich bat darum, mit ihm zu sprechen, aber er schlief.
»Hat er Familie?«
Mick hatte nichts und niemanden. Er war Dozent für Kriminologie und unterhielt eine Beratungsstelle für obdachlose Jugendliche. Ursprünglich hatte er dort nur ausgeholfen, aber als der Träger kündigte und der Projektleiter absprang, wollte Mick nicht tatenlos zusehen. Seine wichtigste Spenderin war anonym, denn wenn er gewusst hätte, wer diese Anonyma war, hätte er ihr Geld abgelehnt.
Mick – mein Mick, Constances Mick – durfte nicht allein sterben, nicht einmal fast. Ich buchte für den nächsten Abend einen Flug nach New Orleans. Eine Regung zuckte durch meinen Brustkorb, das Gefühl, lebendig zu sein, ein Ziel zu haben, gebraucht zu werden und beschäftigt zu sein und am Menschsein
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