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Das Ende der Welt

Das Ende der Welt

Titel: Das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gran
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sitzen und bestellten eine weitere Runde Bier zu einem Dollar das Glas.
    Wir sahen Tracy an. Tracy kannte Chloe am besten.
    »Meinst du, sie hätte …«, sagte ich.
    »Keine Ahnung«, sagte Tracy. »Ich meine …«
    Sie runzelte die Stirn.
    »Nein, das schließen wir aus«, sagte sie entschieden. »Wir gehen davon aus, dass sie am Leben ist, solange uns keiner das Gegenteil beweist, okay?«
    Kelly und ich nickten. Wir stimmten ihr zu.
    Kelly stand auf.
    »Ich muss los«, sagte sie, »Jonah spielt heute Abend.«
    Jonah.
Tracy und ich müssen die Augen verdreht haben, denn Kelly fügte hinzu: »Ihr Zicken seid ja nur neidisch, weil ihr keinen Freund habt.«
    Tracy und ich schnitten Grimassen. Vielleicht hätten wir tatsächlich gern einen Freund gehabt. Vielleicht gönnten wir keiner anderen einen Freund. Aber in meinen Augen war Jonah alles andere als ein Hauptgewinn. Seine Band spielte auf privaten Feiern und bei Punkkonzerten ohne Altersbeschränkung. Kinderkram. Er redete kaum mit mir, und ich hatte es aufgegeben, mich um ihn zu bemühen. Kelly gegenüber schien er genauso unhöflich zu sein. Er war nur ein Freund, ein Accessoire wie eine neue Handtasche oder neue Schuhe, nur besser, weil er einem Gesellschaft leistete, wenn man sich langweilte, weil er einen für Mädchen interessanter machte und für Jungen attraktiver. Dabei wäre ich nie auf die Idee gekommen, mit ihm allein sein zu wollen. Für mich und Tracy war Sex in der Theorie viel spannender als in der Praxis.
    Kelly ging. Tracy und ich schwiegen. Seit Kelly Jonah vor einem halben Jahr kennengelernt hatte, beanspruchte er mehr und mehr von ihrer Zeit. Aber noch nie hatte sie uns seinetwegen mit einem Fall im Stich gelassen.
    Bis heute.
    »Tja«, sagte Tracy und beantwortete meine stumme Frage, »wir sollten mit dem Apartment anfangen.«
    Ich war einverstanden. Ich kannte Chloe kaum. Ihre Zuneigung für Tracy erstreckte sich nicht auf mich und Kelly. Sie war immer nett zu mir, aber wir hatten uns nie allein getroffen. Ich empfand so etwas wie Ehrfurcht vor ihr. Sie hatte kurzes, schwarz gefärbtes Haar, das ihr in langen Strähnen in die Augen hing. Sie kannte alle durchgehend geöffneten Läden und jeden Türsteher vor jedem Club. Sie kannte die Tresenkräfte in sämtlichen Bars und hatte wahrscheinlich seit Jahren nicht mehr für einen Drink bezahlt. Ihr schien alles mühelos und natürlich zu gelingen. Sie war die erste Frau, die ich kannte, die sich ein Tattoo stechen ließ, ein kleines Blaukehlchen, auf ihrem Rücken. Sie hatte als Statistin in einigen von Aces Filmen mitgewirkt. Sie war keine Schönheit mit ihrem Überbiss und dem zu breiten Mund, sie war klapperdürr, hatte kaum Busen, und die Knochen traten unter ihren Secondhandklamotten deutlich hervor. Aber die Jungs standen auf sie. Sie lachte gern und war schlagfertig, und einmal hatte ich gesehen, wie sie in einem Club ein Mädchen geohrfeigt hatte, das sie geschubst und sich nicht entschuldigt hatte.
    Ich sah Tracy an und spürte, dass wir dasselbe dachten. Wenn
Chloe
uns abhandengekommen war, wenn
Chloe
so einfach verschwinden konnte … Chloe, die immer so bodenständig und verlässlich gewirkt hatte.
    Der Fall vom Ende der Welt hatte begonnen.

[home]
    13
    T racy und ich trafen Reena in der Wohnung. Es handelte sich um ein Zweizimmerapartment mit Schlaf- und einem großen Wohnzimmer, von dem Alex, der Zimmermann, ohne Genehmigung einen zweiten, kleineren Schlafbereich abgetrennt hatte. Im Wohnzimmer gab es einen Futon, einen Sofatisch, einen Fernseher auf einem Sockel und ein überladenes Bücherregal: Henry Miller, William S. Burroughs, Philip K. Dick:
Der Gehenkte.
    »Die gehören alle Chloe«, sagte Reena. »Meine stehen in meinem Zimmer.«
    »Liest sie viel?«, fragte Tracy und beugte sich vor, um die Buchrücken zu studieren.
    »Manchmal«, antwortete Reena. »Ehrlich gesagt habe ich den Eindruck, dass sie viele Bücher anfängt und nach der Hälfte beiseitelegt.« Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Sie mag Bücher, aber ihre Aufmerksamkeitsspanne ist kurz. Manchmal hält sie ein Buch in der Hand, starrt aber eigentlich nur die Wand an. Ich mag V. C. Andrews und Judith Krantz. Manchmal lese ich Liebesromane.«
    Das Apartment war gewöhnlich. Holzböden, weiße Wände, Ausblick auf Feuerleitern und Belüftungsschächte. Das Mobiliar stammte vom Flohmarkt oder aus dem Sperrmüll. Reena öffnete die Tür zum eigentlichen Schlafzimmer, das Chloe bewohnte.
    »Bitte

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