Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Ende der Welt

Das Ende der Welt

Titel: Das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gran
Vom Netzwerk:
teilzuhaben.
     
    Dann rief Andray an, zum ersten Mal, seit ich in New Orleans gewesen war. Zum ersten Mal überhaupt.
    »Mick war im Krankenhaus«, sagte er.
    »Ja«, sagte ich, »hab schon davon gehört.«
    »O«, sagte er, »du hast es gewusst?«
    Er klang enttäuscht.
    »Danke«, sagte ich. »Hast du ihn besucht?«
    »Als er noch drin war«, sagte er.
    »Wie meinst du das?«, fragte ich. »Er ist schon wieder draußen?«
    »Ja. Sie haben ihn heute Morgen entlassen.«
    »Wo ist er?«, fragte ich. »Geht es ihm gut?«
    »Zu Hause«, sagte Andray.
    Wir schwiegen eine ganze Minute lang. Ich wusste nicht, wie Andray das nächste Jahr überleben sollte. Nach meiner Abreise war er wieder angeschossen worden, seine vierte Kugel bohrte sich fein säuberlich durch die rechte Schulter und kam hinten wieder heraus. Niemand aus New Orleans hatte mich benachrichtigt, ich erfuhr es erst viel später, vom Lama.
    Ohne Constance hätte ich es nicht geschafft, das wusste ich. Andray hatte mich und Mick. Aber selbst wir beide zusammen waren nicht einmal ein Viertel von Constance wert. Was der Umstand, dass sowohl Mick als auch Andray mit einem Bein im Grab standen, nur bekräftigte.
    »Ist mit dir alles in Ordnung?«, fragte ich.
    Andray machte ein mehrdeutiges Geräusch. »Hm, hm« konnte
ja
oder auch
nein
bedeuten, je nachdem.
    »Besuchst du Terrell?«, fragte ich.
    »Klar. Manchmal«, antwortete er.
    »Geht es ihm gut?«
    »Eigentlich nicht.«
    »Ja«, sagte ich. »Aber. Du weißt schon. Da muss man durch, wie es so schön heißt.«
    Andray schwieg.
    Ich musste ständig an Andray und Terrell denken. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihr Leben verbessert oder verschlechtert hatte, als ich für den Fall des grünen Papageien in New Orleans war. Vor mir hatten sie wenigstens einander gehabt. Nun saß Terrell im Knast und Andray ließ sich durchs Leben treiben. Er ließ sich treiben und war, wie ich annahm, immer kurz vorm Ertrinken.
    Ich wollte sagen:
Ich werde alles tun, um dich da rauszuholen.
Ich wollte sagen:
Ich werde dich aus diesem schwarzen Sumpf aus Tod und Kummer ziehen und ans Ufer bringen.
So wie man auch mich aus dem Sumpf gezogen hatte.
    Wenn man so sehr liebt, schmerzt der Gedanke, es zu versuchen und nicht gut genug zu sein, fast noch mehr als die Untätigkeit. Aber nur fast. Dass zu scheitern tatsächlich die bessere Option ist, merkt man erst, wenn man es versucht hat.
    »Tja«, sagte Andray, »ich wollte nur Bescheid sagen.«
    Er legte auf. Ich wühlte auf meinem Couchtisch herum, zwischen unbezahlten Rechnungen, ungelesenen Zeitschriften und vollen Teetassen, bis ich den kleinen Beutel mit Kokain fand, den Tabitha vor ein paar Tagen hier vergessen hatte. Ich schlug eine der ungelesenen Zeitschriften auf, das
Journal für Kriminologie,
riss die Bestellkarte heraus und benutzte sie, um mir eine Messerspitze Kokain in die Nase zu schaufeln.
    Ich rief Mick an. Er klang benommen.
    »Hallo?«
    »Ich bin’s«, sagte ich.
    »Du? Ellie?«
    Was immer er genommen hatte, um seinem Leben ein Ende zu bereiten, es wirkte noch nach. Ellie war Micks Ex-Frau, die nach dem Sturm abgehauen war.
    »Claire«, sagte ich, »Claire DeWitt.«
    »Oh, hallo Claire«, sagte er merklich enttäuscht, »ich bin krank.«
    »Ich weiß«, sagte ich, »das Krankenhaus hat angerufen. Sie haben es mir erzählt.«
    Mick sagte nichts.
    »Was zum Teufel …?«, fragte ich. Auf einmal war ich beleidigt, so als hätte er der Mühsal des Irdischen nur deswegen entkommen wollen, weil ich ein Teil davon war. »Im Ernst?«
    Er seufzte und schwieg.
    »Willst du für eine Weile herkommen?«, fragte ich. »Ich könnte …«
    Er seufzte noch einmal, nur um sich wieder in Schweigen zu hüllen. Er seufzte, als hätte ich den dümmsten Vorschlag der Welt gemacht, als wüsste ich nichts und würde es auch nicht mehr lernen.
    »Ich habe mir für morgen ein Ticket gekauft«, sagte ich. »Ich dachte mir, ich komme dich besuchen und …«
    »Im Moment passt es mir nicht so gut«, unterbrach er mich. »Claire, hör mal, ich fühle mich nicht … ich meine …«
    »Okay«, sagte ich. »Soll ich später anrufen?«
    »Klar«, sagte er. Aber ich wusste, später würde er genauso wenig mit mir reden wollen.
    »Sicher, dass alles in Ordnung ist?«, fragte ich. »Ich könnte rüberkommen, und dann …«
    »Klar«, sagte Mick, bei dem offensichtlich nichts in Ordnung war und der offensichtlich nicht mit mir reden wollte. »Es geht mir gut. Absolut prima. Wir reden demnächst

Weitere Kostenlose Bücher