Das Ende der Welt
sehr«, sagte sie ein wenig nervös, so als könnte Chloe jeden Augenblick hereinkommen und uns beim Schnüffeln ertappen. »Viel Spaß.«
Wir schlossen die Tür hinter uns.
Das Zimmer war kaum mehr als zehn Quadratmeter groß. Ein Bett, ein Schrank, ein Schreibtisch, ein Sessel. Unaufgeräumt, aber nicht chaotisch. Über dem Bett hing ein Poster von Joe Strummer. Strummer wachte über die schlafende Chloe. An einer anderen Wand hing ein Poster von Vanishing Center. CC , der Sänger, hatte sich mit einer Rasierklinge ein blutiges X in die nackte Brust geritzt. An einer dritten Wand hingen fünf oder sechs Postkarten.
Wir standen an der Tür, schauten uns um und dachten beide:
Was, wenn ich Chloe wäre?
Tracy zeigte auf den Schreibtisch an der Tür. Darauf stand eine Schüssel mit Kleingeld, daneben lag ein Stapel Post. Den würde sie sich zuerst vorknöpfen. Tracy ging zum Schreibtisch und sah die Briefe durch. Ich schaute ihr über die Schulter. Kontoauszüge, ein Angebot der Kreditkartengesellschaft, Werbung. Ich spürte es, Chloes Schlüssel gehörten auf diesen Schreibtisch.
Tracy verstaute die Briefe in ihrer Tasche, der billigen Kopie einer altmodischen Lederschultasche. Dann warf sie sich aufs Bett. Sie betrachtete Joe Strummer.
Ich studierte die Postkarten an der hinteren Wand. Sid Vicious – nein, Gary Oldman in der Rolle des Sid Vicious, der böse in die Kamera stiert. Iggy Pop mit blutverschmierter Brust.
»Sid Vicious«, sagte ich, »Iggy Pop, CC .«
Tracy sah mich an. Ich hob den linken Arm und tat so, als schnitte ich mir das Handgelenk auf.
»Alle haben sich geritzt«, sagte sie.
Tracy setzte sich auf und sah sich um. Sie versenkte ihre Hand in der schmalen Spalte zwischen Wand und Bett. Ich half ihr. Wir zerrten am Futon, um besser an die Lücke zu kommen.
»Ich hab’s«, sagte Tracy nach einer Minute.
»Wirklich?«, fragte ich. Ich konnte nichts sehen, weil ich die zurückgebogene Matratze festhielt.
»Ja.« Tracy kroch vom Bett, und ich ließ die Matratze zurückfallen.
Wir betrachteten das Fundstück. Es war genau, was wir erwartet hatten: eine Rasierklinge, eingewickelt in eine schmutzige Serviette.
Klinge,
schrieb ich in mein Notizbuch. Bei Mädchen kam das häufig vor. Wenn der Druck zu groß wurde, ritzten sie sich und verschafften sich Erleichterung. Weder Tracy noch ich waren betroffen, aber verstehen konnten wir es.
Trotzdem. Chloe? Die sich selbst verletzte?
»Die Wahrheit macht keine Gefangenen«, schrieb Silette, »und sie nimmt keine Geiseln. Wenn man diesem schrecklichen Schicksal entgehen will, sollte man Abstand halten. Man muss am anderen Ende der Stadt bleiben, sich vom Wald fernhalten und darf ihn unter keinen Umständen betreten.«
Ich starrte zu Boden und fing zu zittern an. Ein Gefühl überkam mich, ein schwarzes Gefühl, als wäre ich in ein Schwimmbad mit Schmutzwasser gefallen. Als hätte ich mich im Wald verlaufen.
Tracy legte sich wieder aufs Bett und betrachtete Joe Strummer. Ich legte mich neben sie. Die Sonne schien seitlich ins Zimmer, im Januarwinkel.
Ich lag neben Tracy im Bett, und sie schob ein Bein über mich und wärmte mich. Wir betrachteten Joe Strummer.
»Als hätte er sie im Blick gehabt«, sagte Tracy.
»Doch hat er sie unterstützt?«, fragte ich. »Oder hat er sie, ich weiß auch nicht … verurteilt? Von oben herab?«
»Gute Frage«, sagte Tracy.
Wir betrachteten Joe.
»Unterstützt«, sagte Tracy schließlich, ganz und gar in Strummers Bann. »Ich glaube, er hat sie unterstützt.«
Auf dem Weg nach draußen entdeckten wir Fotos von Chloe und Reena aus einem Passbildautomaten, die Chloe an ihren Spiegel gesteckt hatte. Es handelte sich um einen Streifen mit vier Bildern: zweimal Chloe und Reena zusammen, einmal Reena allein, einmal Chloe.
Tracy nahm den Streifen, riss das Foto von Chloe ab und steckte die anderen hinter das Glas zurück.
»Komm«, sagte sie.
In der folgenden Nacht träumte ich von Chloe. Wir standen am Waldrand auf einer dunklen Lichtung im trüben Mondschein. Ich hatte noch nie einen richtigen Wald gesehen, ich kannte nur den Central und den Prospect Park, aber in meinem Traum erkannte ich alles ganz klar und deutlich. Die Baumstämme, eingehüllt in eine dicke, dunkelrote Rinde, waren so riesig, dass wir sie selbst zu fünft nicht hätten umarmen können, und die Baumkronen reckten sich hundert Meter hoch in den Himmel. Der Boden war von grünen Kiefernnadeln bedeckt, und um die Stämme sprossen
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