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Das Ende der Welt

Das Ende der Welt

Titel: Das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gran
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entwendeten Englischbuchs einen Zahn ausgebrochen hatte. Dem Zahnarzt hatte ich erzählt, ich wolle keine Schmerzmittel, weil ich mich damit unwohl fühle. Es hatte funktioniert, und ich bekam zehn Tabletten verschrieben. Die erste war himmlisch gewesen, die darauf folgenden sechs zunehmend weniger wunderbar, weil meine Toleranzgrenze schnell gestiegen war.
    Ich nahm die drei übrig gebliebenen und spülte sie mit dem Rest Likör hinunter.
     
    Als ich eingeschlafen war, träumte ich, ich wäre tot.
    Ich lag auf einer schwarzen, kahlen Fläche, eine abgebrannte Stadt vielleicht oder ein abgestorbener Wald.
    Ich lag im Dreck wie eine Puppe, kaputt und vergessen, und ringsum glitzerten die Glassplitter. Meine Augen waren geschlossen, meine Lippen blassblau.
    Tage verstrichen. Eine Ewigkeit verging. Ich war jahrelang tot. Jahrhundertelang.
    Langsam, kaum spürbar stupste etwas gegen meinen Arm. Wieder und wieder.
    Ich fragte mich, ob es mich verletzen wollte.
    Wollte es. Es stupste fest und dann immer fester.
    Offenbar hörten die Schmerzen niemals auf. Das war also die große Offenbarung.
    Etwas kratzte an meiner Hand, Zähne oder harte Lippen bissen sanft in meine Hand, in meinen Arm, ohne die Haut zu verletzen.
    Ich spürte, wie die harten Lippen über meinen Hals strichen. Der Mund tastete nach meinem Kleid, biss sich am Kragen fest.
    Das Ding mit den harten Lippen zerrte an meinem Kleid und schleifte mich davon.
    Das Ding schleifte mich stundenlang. Jahrelang vielleicht. Meine Augen waren geschlossen, aber ich spürte, wie meine Leiche über scharfkantige Felsen und spitze Scherben gezogen wurde.
    Endlich hielten wir an. Das Ding ließ mein Kleid los.
    Plötzlich spürte ich einen heißen Atem und die seltsamste Empfindung im Gesicht, rauh und nass, wie feuchtes Sandpapier rieb es mich ab. Das nasse, rauhe Ding fuhr mir über die Augen, schob meine Lider hoch, wieder und wieder, bis sie offen standen.
    Ich konnte sehen. Über mir stand ein riesiger, schwarzer Vogel mit rotem, nacktem Kopf und reinigte mein Gesicht. Der Vogel lehnte sich zurück.
    Ich setzte mich auf. Ich lebte.
    Wir waren im Wald. Ein Moosteppich bedeckte den Boden. Unter riesigen Bäumen mit roter, aufgeplatzter Rinde blühte Farnkraut.
    Wir musterten einander. Der Vogel hatte winzige, schwarze Knopfaugen, die alles sahen.
    Er beugte sich herunter. Er roch nach Dreck und Aas. Seine schwarzbraunen Federn waren stumpf.
    Er flüsterte mir ins Ohr.
    »Das ist nicht der Preis, den du bezahlen musst. Das ist nicht die Strafe dafür, ein Herz zu haben.«
    Dann schlug er mich fest ins Gesicht.
    Er schlug mich noch einmal.
    Ich öffnete die Augen. Der Geier war verschwunden. Lenore stand über mich gebeugt und ohrfeigte mich.
    Als sie sah, dass ich die Augen geöffnet hatte, hielt sie inne.
    »Du lieber Gott, Schätzchen«, sagte sie, »du hast mir einen höllischen Schrecken eingejagt.«
    Ich sah sie an.
    »Du bist nicht aufgewacht«, sagte sie verängstigt. »Dein Telefon hat geklingelt und geklingelt, aber du bist nicht aufgewacht.«
    Ich hatte einen eigenen Telefonanschluss; Kelly hatte ihn irgendwie von einer fremden Leitung abgezweigt. Manchmal belauschte ich die puerto-ricanische Familie, der der Anschluss gehörte. Die Frau hatte eine Affäre. Nur der jüngste Sohn wusste davon.
    »Was ist los mit dir?«, fragte Lenore. »Was ist passiert? Bist du krank?«
    Ich schüttelte den Kopf, der sich schwer und vernebelt anfühlte. »Nein«, sagte ich, »nur müde.«
    Sie musterte mich. »Sicher?«, fragte sie. »Du hast doch irgendwas genommen.«
    »Nein, natürlich nicht«, sagte ich im Halbschlaf. »Was sollte ich denn nehmen?«
    Meine Mutter setzte sich auf die Bettkante.
    »Weißt du, manchmal mache ich mir Sorgen um dich«, sagte sie und legte eine Hand auf mein Knie.
    »Das brauchst du nicht«, sagte ich müde und verwirrt. Die Sätze kamen ganz automatisch. »Mir geht es gut.«
    »Wirklich?« Sie sah tatsächlich besorgt aus.
    »Natürlich«, sagte ich. »Lass mich nachsehen, wer angerufen hat. Vielleicht geht es um unseren Fall. Möglicherweise hat Tracy etwas herausgefunden.«
    »Ihr mit eurem Detektivspiel«, sagte sie lächelnd und mit einem Kopfschütteln. »Wenigstens weiß ich, dass ihr keine Dummheiten macht, solange ihr spielt, nicht wahr?« Sie klang ein bisschen hilflos.
Nicht wahr?
    Ich nickte.
    Sie beugte sich unvermittelt vor und riss mich zu einer ungestümen Umarmung an sich.
    »Du weißt doch, wie lieb ich dich habe, oder,

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