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Das Ende der Welt

Das Ende der Welt

Titel: Das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gran
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jemanden eine Weile kannte, bat ich um einen Abdruck. Manche waren darüber nicht erfreut; in dem Fall musste man sich jedoch fragen, was sie zu verbergen hatten.
    Lydias Herzzentrum war vernarbt, eine kleine Furche zog sich über den ganzen Daumen. Der Liebeswirbel war, was mich kaum überraschte, überentwickelt. Der Mitleidsbogen war deutlich ausgeprägt. Das allerdings war eine Überraschung.
    Ich nahm Klebeband und löste Rob Scorpios Fingerabdrücke vorsichtig von der Bierflasche. Ich fixierte sie auf einer Karte und schrieb Name und Datum darüber.
    Der Arme. Unterbrochene Linien und chaotische Wirbel, wohin man auch schaute. Der Schicksalswirbel war nicht vollständig ausgebildet. Ihm war nichts Großes vorgegeben. Aber wenn er nur wollte, konnte er sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen.
    Ich hatte in Pauls Haus Fingerabdrücke gesammelt. Die meisten taugten nichts, aber ein paar waren qualitativ gut, gut genug für einen Abgleich.
    Ich betrachtete den Stapel. Fingerabdrücke zu vergleichen war angeblich eine beruhigende, meditative Tätigkeit. Es gehörte dazu. In meinen Augen war es die reinste Quälerei.
    Ich schickte Claude die Abdrücke per E-Mail, zusammen mit meinen Anweisungen. Dann rief ich Andray an.
    »Hey«, sagte ich, »ich wollte nur hören, ob bei dir alles okay ist. Und bei Mick. Hast du ihn vielleicht gesehen? Ich weiß nicht, ob er gerade in Therapie ist oder so. Ich weiß nicht. Ich glaube, ich habe es schon einmal gesagt, aber ich ersticke in Arbeit. Momentan ist es wirklich verrückt. Also, nur falls du einen Job suchst.«
    Ich rieb mir die Nase und hatte Blut an den Fingern.
    Ich legte auf, und dann war ich irgendwie im Shanghai Low. Sam, der Barmann, nahm mich ins Hinterzimmer mit.
    »Ist das Zeug mit Kuhtranquilizer versetzt?«
    Zitternd zog er eine lange Line auf. Sam war in seinem Element. Als die Bar schloss, gingen wir ins chinesische Restaurant gegenüber, dessen Personal nach Geschäftsschluss eine inoffizielle Bar betrieb. Ein Koch, den Sam aus dem Imperial Palace kannte, gab uns eine Runde aus, und dann gaben wir ihm eine aus. Ich war einmal mit Paul hier gewesen. Er hatte viel länger in San Francisco gelebt als ich, kannte alle Geheimtipps und Insiderlokale.
    Die Sonne ging auf, aber wegen des dichten Nebels bemerkten wir sie nicht, bis irgendwann die Angestellten von der Tagschicht kamen und die Nachtschicht hinauswarfen, um das Restaurant auf den Betrieb vorzubereiten. Auf der Straße versuchte Sam, mich zu küssen.
    »Soll das ein Witz sein?«, fragte ich. Ich hatte den Geschmack von alter Pappe im Mund, und meine Zähne fühlten sich an wie Schmirgelpapier.
    Als ich nach Hause kam, war es bereits Mittag. Claude war da. Ich knirschte mit den Zähnen und hatte weit aufgerissene Augen, war aber reif fürs Bett.
    »Hey«, sagte er, an die verschiedenen Ausfallerscheinungen seiner Arbeitgeberin gewöhnt, »ich habe alle Fingerabdrücke überprüft.«
    »Und?«, fragte ich.
    »Dieser Kerl«, sagte Claude, »war im Haus.«
    »Wo?« Meine Zähne versuchten einander zu zermahlen, zu pulverisieren.
    Claude sah mich an. »Am Kühlschrank«, sagte er.
    »Scheiße«, sagte ich. Der Kühlschrank war ein sehr persönlicher Gegenstand. Den fassten Besucher nicht ohne weiteres an. Auf einmal merkte ich, dass ich seit ungefähr neun Stunden nicht geblinzelt hatte. Ich blinzelte, spürte, wie meine Lider sich über meine trockenen Hornhäute schoben, und zog mir Jacke und Schuhe aus.
    »Er war dort«, sagte ich zu Claude, »wir müssen ihn finden.«
    »Er kann jederzeit dort gewesen sein«, sagte Claude und folgte mir ins Schlafzimmer. Ich zog mir Socken und Jeans aus, setzte mich ins Bett und wickelte die Laken um mich.
    »Er war dort«, sagte ich.
    »Woher willst du das wissen?«, fragte Claude.
    »Weil wir auf eins vertrauen können«, erklärte ich und fragte mich gleichzeitig, ob eine kleine, schwarze Katze durch die Wohnung lief oder ob ich Halluzinationen hatte. »Auf eins allein, immer, das darfst du nie vergessen. Du kannst nur auf eins vertrauen. Du weißt, was es ist, oder? Sag mir, dass du weißt, was es ist. Sag, dass du es verstanden hast. Denn wenn du es mir nicht sagen kannst, frage ich mich wirklich, was ich hier mache.«
    »Die Hinweise«, sagte Claude. »Wir trauen den Hinweisen.«
    »Ja«, sagte ich. Vor meinen Augen entstanden Welten, wirbelten herum, kollidierten. »Ja. Ja.«
    »Und dir«, sagte Claude. »Ich vertraue dir.«
    »Nein«, sagte ich. »Tu das nicht.

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