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Das Ende der Welt

Das Ende der Welt

Titel: Das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gran
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Kleines?«, fragte sie. »Ich weiß ja, ich bin nicht gerade die beste Mutter der Welt. Aber du weißt, dass ich dich liebe, oder?«
    Ich erwiderte die Umarmung. »Natürlich, Mom. Das weiß ich.«
    Sie machte sich los und lächelte mich an. »Okay. Ruf deine Freundin schnell zurück. Es ist zwar schon spät, aber wozu hat man Ferien, nicht wahr?«
    Sie stand auf. Auf dem Weg zur Tür blieb sie noch einmal stehen. Ihr stechender Blick schmerzte dort, wo er mich traf.
    »Was ist?«, fragte ich.
    »Nichts«, sagte sie in schneidendem Ton, »ruf deine Freundin an.«
    Sie verschwand. Ich stand auf und rief Tracy zurück. Mir war schwindlig.
    »Ich habe geträumt«, sagte sie. »Von Chloe. Wir müssen mit Chloe reden.«
    »Hast du den Fall gelöst?«, fragte ich.
    »Noch nicht«, sagte sie, »aber ich glaube, wir können ihn heute Nacht lösen.«
    Auf einmal war ich wieder lebendig.
     
    Ich wartete auf der Veranda auf Tracy. Es war halb drei Uhr nachts. In der Straße war es still. In der Ferne hörten wir einzelne Autos, eine Sirene, einen langgezogenen Pfiff. Wir liefen zum Bahnhof. Wir zündeten uns Zigaretten an und konnten unseren kondensierten Atem nicht vom Qualm unterscheiden. Ich war wegen der Tabletten immer noch ein bisschen wirr und langsam, aber ich erholte mich zusehends. Mit jedem Schritt wurde das Leben wirklicher.
    Ich betrachtete Tracy und wusste, auch sie fühlte sich jetzt so wie ich, absolut und unbestreitbar real. Die kalte Luft, der Geruch der U-Bahn, das kalte, lackierte Metall an unseren Handflächen, als wir über die Drehkreuze kletterten – alle Sinne waren geschärft, alle Informationen klar und deutlich.
    Niemand sonst wartete auf die Linie G, niemand sonst saß in der Bahn, niemand stieg ein, aber mir kam es so lebendig und stürmisch vor wie zur Hauptverkehrszeit. Das Mädchen von gestern Abend war eine Fremde, sie war Vergangenheit.
    »Was«, fragte ich, »hast du geträumt?«
    Tracy runzelte die Stirn. »Von Chloe«, antwortete sie. »Wir müssen sie da rausholen.«
    »Notfalls mit Gewalt«, sagte ich.
    »Ja«, sagte Tracy, »notfalls mit Gewalt.«
    Ich wusste, wir würden Chloe dort hinbringen, wo sie hingehörte. Wenn es sein musste, würden wir morgen wiederkommen. Und übermorgen. Wir würden nicht ruhen, bis sie war, wo sie hingehörte.
    »Der Detektiv ist mit einem Fluch beladen«, schrieb Silette im Jahr 1959 . »Nur beim Lösen eines Rätsels fühlt er sich vollkommen lebendig. Das Leben sieht er wie durch einen Schleier, und als gut bewertet er es nur insofern, als es ihm Hinweise für das Lösen seiner Rätsel liefert.«
     
    CC und Chloe saßen im Büro des Hell auf dem Sofa. Hinter dem Schreibtisch in der Ecke saß ein Mann, den wir noch nie gesehen hatten, und zog dicke Kokslines von der Schreibtischplatte auf. CC und Chloe hatten ganz offensichtlich kein Kokain genommen. Sie döste an seine Schulter gelehnt. Mitten im Raum, dort, wo Chloe gestern ihre kleine Aufführung gehabt hatte, versuchte ein Junge in unserem Alter, einen zweiten Jungen in Fahrt zu bringen. Beide Jungen trugen Jeans, ihre Oberkörper waren nackt, und sie hatten kurzes, blondes Haar. Der erste klatschte dem zweiten halbherzig auf den Hintern.
    »Fester«, jammerte der zweite, »los!«
    »Halt die Klappe«, sagte der erste Junge, »du bist öde. Es schaut ja nicht mal jemand zu.«
    Als wir eintraten, wachte Chloe auf.
    »Ihr schon wieder«, sagte sie. »Was zum Teufel wollt ihr?«
    Tracy antwortete nicht. Stattdessen ging sie zum Sofa, setzte sich neben Chloe und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
    Chloe runzelte sie Stirn, rückte von Tracy ab.
    »Verpiss dich«, sagte sie.
    Chloe beschimpfte Tracy minutenlang. Sie wollte aufstehen und gehen, aber Tracy hielt sie auf dem Sofa fest, was selbst ihr, der zarten Tracy, gelang. Chloe war im wahrsten Sinn des Wortes nur noch Haut und Knochen, ihr Bauch konkav gewölbt.
    Ich wusste nicht, was Tracy ihr sagte. Vielleicht würde sie es mir verraten, vielleicht nicht. Tracy liebte die Geheimniskrämerei.
    Chloe rutschte auf dem Sofa hin und her, wandte sich von Tracy ab wie ein Baby vom verhassten und doch dringend benötigten Essen. Tracy redete leise auf sie ein und ließ nicht los, hielt Chloe fest, gab nicht nach. Nach einer Weile wurde Chloes Gesicht ruhiger, glatter. Sie ähnelte wieder sich selbst.
    Dann fing sie zu weinen an.
    »Nein, nein, nein«, flüsterte Tracy, »du hast es nicht gewusst. Ist schon in Ordnung.«
    Chloe sagte etwas, aber ich konnte sie

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