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Das Ende der Welt

Das Ende der Welt

Titel: Das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gran
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Bezahlung, und aus reinem Spaß schrieb sie Gedichte. Zurzeit arbeitete sie an ihren Memoiren. Es ging um ihre Kindheit in New York, um ihre berühmten, verantwortungslosen Eltern.
    »Ich habe euch gesucht«, sagte sie, »ich habe euch im Internet gesucht. Ich habe viel über dich gelesen und ein bisschen was über Kelly. Nur Tracy konnte ich nicht finden. Stimmt es, dass man nie eine Spur gefunden hat? Nichts?«
    »Aus diesem Grund rufe ich an«, sagte ich. »Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst. Der Abend damals, als Tracy dich da rausgeholt hat. Sie hatte damals von dir geträumt. Hat sie dir je davon erzählt? Von ihrem Traum?«
    »Der Traum?«, sagte Chloe. »Du meinst deinen Traum?«
    In meinem Kopf fing sich alles zu drehen an.
    »Mein Traum?«, fragte ich. »Nein, es war anders …« Ich unterbrach mich. »Chloe, was ist damals passiert?«
    »Na ja«, sagte Chloe, »ihr zwei wart einen Abend zuvor schon da gewesen, und ich … Du liebe Güte. Es tut mir so leid. Ich war nicht besonders nett zu euch.«
    »Ist schon okay«, sagte ich. »Ich bin auch nicht immer nett gewesen.«
    »Und einen Tag später seid ihr wieder dort aufgetaucht. Du und Tracy.«
    »Und was haben wir getan?«, fragte ich.
    »Tja, du bist zu mir rübergekommen«, sagte Chloe. »Das werde ich nie vergessen. Du bist gekommen und …«
    »Ich?«
    »Du«, sagte Chloe. »Claire. Tracy hat an der Tür gewartet. Du, Claire, bist rübergekommen und hast dich neben mich aufs Sofa gesetzt. Und du hast deine Hand auf mein Knie gelegt. Sie war ganz warm. Und ich wollte weg … weißt du, ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass jemand sich so viel aus mir macht, allein bei der Vorstellung wurde mir übel. Ich wäre am liebsten gestorben. Du kennst das.«
    Der ganze Raum drehte sich. Ich legte mich auf den Boden. Ich presste meine Wange an den kalten Fußboden und versuchte, mich zu erden, hatte aber das Gefühl davonzuschweben. Ich kannte es. So übel, dass man sterben will.
    »Ich wollte weg, aber du hast nicht losgelassen«, redete Chloe weiter. »Und du hast mir von deinem Traum erzählt.«
    »Was habe ich gesagt?«, fragte ich.
    »Na ja«, sagte sie. »Du hattest geträumt. Und meine Reaktion war, na und, ist mir doch egal. Aber du hast einfach keine Ruhe gegeben und mir deinen Traum erzählt. Deinen Traum mit dem Pfau oder eigentlich der Pfauhenne, denn der Vogel in deinem Traum war ein Mädchen. Jedenfalls wollte der Pfau Gott finden. Denn Gott hatte sich über die Menschen geärgert und das Licht ausgemacht. Es war ein düsteres Zeitalter, verstehst du? Manche Leute sprechen vom Kali Yuga. So was in der Art. Die Menschen stritten und brachten einander um. Im Großen und Ganzen war es wie in der Hölle. Einfach beschissen. So wie es eben ist, du weißt schon. Das Pfauenmädchen beschloss also, dafür zu sorgen, dass es wieder Licht wird. Alle hielten sie für einen dummen, eitlen Vogel. Na ja, sie war eben ein Pfau. Alle haben sie ausgelacht und mit Gegenständen beworfen. Sie war nämlich die Schutzpatronin der Huren. Sie war ein Mädchen. Aber niemand flog so hoch wie sie. Keiner hatte es je versucht.«
    Ich wühlte in meiner Handtasche, bis ich eine Oxycodon gefunden hatte. Ich steckte sie mir in den Mund, kaute und schluckte. Ich erinnerte mich daran, Chloe ins Ohr geflüstert zu haben. Meine Stimme war ganz jung: »Alle hielten sie für ein dummes Mädchen. Für eine blöde kleine Schlampe, die allen egal war und die niemand liebte.«
    Chloe stieß einen Ton aus, und ich fragte mich, ob sie weinte. Mit zittrigen Händen fischte ich eine zweite Tablette heraus, legte sie aber wieder zurück.
    »Aber sie konnte das«, sagte Chloe. »Das Pfauenmädchen flog höher und höher, bis sie ihn traf. Sie traf Gott. Und sie sagte Gott, dass sie uns über alles liebe und dass wir so übel gar nicht seien, dass wir wirklich großen Mist gebaut hätten, aber zu Besserem in der Lage seien. Wir würden uns vielleicht nicht schlagartig bessern, es würde viele Menschenleben dauern, aber irgendwann wäre es soweit. Obwohl wir alles kaputt gemacht hatten, sah sie das Gute in uns. Obwohl wir alles kaputt gemacht und verbockt hatten. Und Gott war so beeindruckt, dass er seine Meinung änderte. Er schaltete das Licht wieder ein. Er wusste, sie war kein dummes, kleines Mädchen. In seinen Augen hatte sie die ganze Welt gerettet.«
    Ein Arm um Chloes Schulter, ich ziehe sie an mich, spüre die Wärme, wo unsere Körper sich berühren. Chloe zittert, ich

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