Das Ende der Welt
nicht verstehen, und dann flüsterten sie noch für ein paar Minuten. Chloe starrte Tracy an, als habe Tracy die Antwort auf eine Frage, die sie schon ihr ganzes Leben verfolgte.
Mir wurde klar, dass außer Tracy und mir niemand in diesem Raum sich scherte, ob Chloe weiterlebte oder starb. Und dass sie freiwillig und absichtlich hergekommen war, in diese Stadt der Toten, wo keiner sie liebte.
Chloe klammerte sich schluchzend an Tracy fest.
»Ist schon gut«, sagte Tracy, »alles wird wieder gut.«
Tracy stand auf und zog Chloe mit sich. Ich zog meine Jacke aus und legte sie Chloe um die Schultern, und dann verließen wir das Zimmer und den Club und traten auf die Eighth Avenue hinaus.
Zuerst fuhren wir zum Apartment von Reena und Chloe. Chloe konnte nicht mehr zu weinen aufhören. Im Taxi nicht, auf der Straße nicht und auch nicht im Hausflur, wo wir warteten, während Tracy mit Reena sprach. Später erfuhr ich, dass Tracy Reena erzählt hatte, Chloe könne ihr im Moment nicht gegenübertreten. Reena zeigte Verständnis. Sie war einfach nur froh, dass Chloe wieder da war. Sie ging in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich, während Chloe unter Tränen in ihr Zimmer schlich und ein paar Taschen packte.
»Ich habe eine Tante«, sagte Chloe. »Sie wohnt in L.A. Ich will zu ihr.«
»Bist du sicher, dass sie dich aufnehmen wird?«, fragte Tracy. »Willst du sie nicht vorher anrufen?«
»Sie wird mich aufnehmen«, sagte Chloe störrisch. »Sie hat gesagt, dass ich immer zu ihr kommen kann, wenn ich Ärger habe. Sie liebt mich. Das weiß ich.«
Sie sagte das, als würden wir ihr niemals glauben. Als sei der Gedanke unglaubwürdig.
Sie weinte und packte, und sie weinte immer noch, als wir mit der Bahn zum Port Authority Bus Terminal fuhren. Sie weinte immer noch, als wir unser letztes Geld zusammenkratzten, um ihr eine Busfahrkarte nach L.A. zu kaufen, plus zwanzig Dollar für die Verpflegung auf der fünftägigen Fahrt.
Die Sonne ging auf und wir saßen in Port Authority. Die meisten Bänke waren von Obdachlosen belegt. Zuhälter und ihre putzmunteren Schützlinge hielten alle Neuankömmlinge scharf im Blick.
An einem Busbahnhof geschah nie etwas Gutes. Bis zu diesem Tag.
Um acht war Chloes Bus zum Einsteigen bereit. Sie umarmte uns mit aller Kraft. Sie weinte immer noch.
»Ich danke euch«, sagte sie zwischen den Schluchzern, »ich danke euch für immer und ewig.«
Weinend bestieg Chloe den Bus. Tracy und ich nahmen die Linie A und dann die F und die G nach Hause.
Als wir in Brooklyn aus dem Zug stiegen, war es schon fast zehn Uhr. Die Sonne schien hell, die Kälte hatte ein wenig nachgelassen. Ein Jahr später würde Tracy verschwinden, auf Nimmerwiedersehen, und noch ein Jahr später kehrte ich Brooklyn für immer den Rücken und ließ Kelly allein in dem Chaos zurück, das wir angerichtet hatten.
»Was machen wir heute?«, fragte Tracy und blinzelte in die Sonne. Ihre Haut war blass und trocken.
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Eigentlich könnten wir in die Schule gehen.«
Und das war der Fall vom Ende der Welt.
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52
San Francisco
A m nächsten Tag wachte ich am späten Abend auf, im Dunkeln und mit dem traurigen Gefühl der Orientierungslosigkeit, das sich unweigerlich einstellt, wenn man einen Tag verschläft. Claude war gegangen. Ich trank einen Tee und noch einen Tee, und dann sagte ich mir
scheiß drauf
und kochte Kaffee.
Der Fall vom Ende der Welt. Chloe und Tracy hatten mir nie verraten, was Tracy geträumt und in Chloes Ohr geflüstert hatte.
Es konnte nicht schaden, noch einmal nachzufragen.
Es ist kinderleicht, eine Person zu finden, die sich nicht absichtlich versteckt. Auf Chloe Romans Facebookseite konnte ich nachlesen, dass sie Gedichte schrieb und in Los Angeles lebte. Von da an dauerte es nur eine (größtenteils in Warteschleifen zugebrachte) Stunde, bis ich wusste, dass sie keinen Festnetzanschluss, aber ein Handy besaß und die Rechnung an eine Adresse im Los Angeles County geschickt wurde.
Ich erkannte ihre Stimme auf Anhieb wieder.
»Hier spricht Claire«, sagte ich, »Claire DeWitt. Aus Brooklyn.«
»O mein Gott«, sagte Chloe. »O mein Gott. Claire. Hi! Wow. Wie geht es dir?«
»Gut«, log ich. »Und dir?«
Wir plauderten kurz. Ich erzählte ihr, dass ich Privatdetektivin sei und in San Francisco wohne. Chloe wusste es bereits, sie hatte mich gegoogelt. Sie sagte, sie arbeite jetzt als Autorin. Sie schrieb Drehbücher für Film und Fernsehen, gegen
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