Das Ende des Zufalls - Wie Big Data uns und unser Leben vorhersagbar macht (German Edition)
sonst stabiler Blue Chip, mehr als 24 Prozent ihres Werts verloren hatte, löst sich CNBC-Kommentator Jim Cramer aus seiner verblüfften, orientierungslosen Erstarrung und versucht, sich mit einer mutigen Meinung Gehör zu verschaffen: „Das ist kein realer Preis. Jetzt muss man kaufen, das ist kein realer Preis. Das ist eine gute Gelegenheit!“ In dem aufgeregten Durcheinander der Moderatoren ist er aber kaum zu hören.
Inzwischen ist der Dow Jones zeitweise um fast tausend Punkte gefallen und CNBC zeigt die Einblendung „Aktienkurse stürzen wegen Sorge um Griechenland“. In weniger als zehn turbulenten Minuten war an der Wall Street kurzfristig ein Marktwert von einer Billion Dollar vernichtet worden. Die grotesk-dramatischen Minuten können Sie noch heute in einem YouTube-Video der CNBC-Live-Sendung nacherleben. 79
Erst fünf Monate später stellte ein umstrittener Untersuchungsbericht der U.S. Securities and Exchange Commission (SEC) und der Commodity Futures Trading Commission (CFTC) den vermutlichen Grund fest. Verkaufs-Algorithmen des elektronischen Hochfrequenzhandels hatten eine Abwärtsspirale ausgelöst, die durch die verstärkende Wirkung des automatisierten Zusammenspiels der Algorithmen der unterschiedlichen Händler-Systeme noch beschleunigt wurde. Trotzdem gibt es bis heute keine einhellige Erkenntnis darüber, warum am 6. Mai 2010 plötzlich neun Prozent des gesamten Aktienwerts an der Wall Street innerhalb von nur wenigen Minuten vernichtet wurden.
„Es ist lediglich eine Frage der Zeit, bevor wir eine ähnliche Katastrophe in der gleichen Größenordnung oder schlimmer wie den Flash Crash 2010 wieder haben werden. Und das nächste Mal werden wir vielleicht nicht so viel Glück haben, dass sich der Spuk vor Börsenschluss wieder legt. Und dann haben wir über Nacht einen Exodus vom Markt mit desaströsen Auswirkungen für die US-Wirtschaft.“ 80
David Lauer, Wall-Street-Analyst, als Zeuge vor dem Banking Committee des US-Senats am 12. September 2012
Eine Studie der britischen Regierung über die Zukunft des Computer-Börsenhandels äußert sich recht eindeutig darüber, aus welcher Richtung Gefahr droht: „Adaptive Algorithmen für den Börsenhandel sind automatisierte Handelssysteme, die aus den Erfahrungen der Interaktion mit anderen Systemen lernen und ihre Aktivitäten automatisch anpassen können. Bei dieser automatischen Optimierung überprüfen die Algorithmen selbst, welche Methoden gewählt werden. Auf diese Weise können neue Algorithmen für die Handelssysteme entstehen, ohne die Involvierung von Menschen. Die Verwendung solcher Techniken wird in den nächsten Jahren zunehmen. Da sie aber kaum oder überhaupt keine menschliche Involvierung benötigen und sie mit übermenschlicher Geschwindigkeit agieren, wird es extrem schwierig, das Verhalten dieser automatisierten Handelssysteme zu verstehen, vorherzusagen oder zu kontrollieren! 81
Im Klartext heißt das: Wir haben unsere Beobachtungs- und Entscheidungsfunktionen in vielen Fällen in maschinenbasierte Systeme ausgelagert und sie so schnell und effizient gemacht, dass sie sich unserer Kontrolle weitgehend entziehen, auch wenn wir formal noch immer die Letztinstanz sind. Wenn nun ein ausgelagertes Denk- und Entscheidungssystem Amok läuft, haben wir kaum den Überblick, um rasch genug reagieren zu können. Das Paradoxe an dieser Situation: Geschwindigkeit und Umfang dieser im Nanosekundentakt agierenden Systeme nehmen laufend zu, die letzte Kontrolle darüber hat aber noch immer der Mensch. Der verliert allerdings, aufgrund der ursprünglich von ihm erschaffenen Komplexität und Geschwindigkeit, zunehmend die Kompetenz und auch das Selbstvertrauen, diese megakomplexen Systeme tatsächlich zu kontrollieren. Dort, wo die Letztentscheidung von Menschen getroffen wird, wird sie deshalb immer eine Bauch- oder in Kahnemans Worten „System 1“-Entscheidung sein müssen, schon weil eine rationale Überprüfung technisch nicht mehr möglich ist. Nicht umsonst wird der Algorithmen-Handel auch Black-Box-Trading genannt.
„Es ist eine Form von Glücksspiel – also lasst es uns besteuern“, sagt Dean Baker, Co-Direktor des Centre for Economic and Policy Research in Washington. „Wenn man nach Las Vegas geht und spielt, zahlt man Steuer. Wenn man nach Atlantic City geht und spielt, zahlt man Steuer. Wenn man in die Wall Street geht und spielt, warum soll man da keine Steuer zahlen?“
Ist eine halbe Sekunde langsam
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