Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens
mit Wirtschaft natürlich nicht viel zu tun hatte. Aber damit musste der SPIEGEL mittlerweile doch rechnen, oder?
TIZIANO: Die Ratten hatten zwar nicht direkt etwas mit Wirtschaft zu tun, aber trotzdem wurde es eine schöne Geschichte, die den Blick des Lesers auf einen anderen Aspekt lenkte. Südostasien erlebte ja gerade einen unvergleichlichen Boom, es explodierte geradezu, vor allem China und Indien. Und in so einem Land gab es Tempel, in denen Ratten angebetet werden! Die für uns die allerekligsten Viecher sind, für die Inder jedoch herrliche Tiere, denn sie sind die Reittiere des Elefantengottes Ganesha. Was ich dem SPIEGEL also zu erklären suchte, war, dass dieses Land kaum zur dritten Wirtschaftsmacht der Welt aufsteigen könne. Für mich widersprach der Rattentempel nur allzu offensichtlich der Erwartung, Indien könne ein zweites Silicon Valley werden.
Und doch, der Gestank in diesem wunderschönen Tempel, in dem es übrigens eine weiße Ratte gab, die von allen am meisten zu fressen bekam, war das Symbol für ein unsterbliches Indien, ein Indien, das mit kaum zu übertreffender Provokation auszudrücken versuchte, dass Gott überall ist. Auch in stinkenden Ratten.
Mit so etwas beschäftigte ich mich. Mich faszinierte, dass die ersten jungen Manager der Salomon Brothers, die mit der Krawatte um den Hals ihre Projektionen über die Anzahl der jährlich zu verkaufenden Autos aufstellten, es dort mit so etwas wie einem Rattentempel aufnehmen mussten.
Oder mit dem Tempel der Weiblichen Knospe, der - und das ist natürlich kein Zufall - am Ufer des Brahmaputra liegt, eines „männlichen“Flusses. Man geht durch einen unterirdischen Gang und steht plötzlich vor einem riesigen, in Stein gemeißelten weiblichen Geschlechtsteil, das mit einem roten Tuch feucht gehalten wird. Eingehüllt in den süßlichen Geruch vermoderter Blumen beteten die Leute dort um Fruchtbarkeit.
Um Missverständnissen vorzubeugen, muss allerdings eines gesagt sein: Wir - du und ich - lieben Indien, weil es uns zwar nicht die Antwort gegeben, aber doch eine große Gelegenheit geboten hat. Das heißt aber nicht, dass man dazu unbedingt nach Indien gehen müsste. So etwas zu behaupten, würde nur die Horden von Aussteigern vergrößern, die dort oft nichts anderes tun, als mit Hilfe von Drogen sich selbst zu verlieren. Nein, die Welt ist voll von solchen Gelegenheiten, Folco, denk nur an unsere Vergangenheit, unsere Kultur. Der Alte hatte recht, wenn er sagte: „Ihr habt eure eigenen Rishis, eure Weisen, vergessen. Ihr habt sie in Bücher verwandelt, die ihr in Bibliotheken stellt und in der Schule lest. Wir nicht. Wir leben mit ihnen.“
Er hat recht. Das Abendland ist voller großer Rishis, die die Welt begriffen hatten.
FOLCO: Aber heute gibt es keine mehr.
TIZIANO: Nein, weil die Moderne sie weggefegt hat. Und wenn es so weitergeht, wird dasselbe auch in Indien geschehen, meinst du nicht?
FOLCO: Bei uns findest du keine Menschen, die über die Welt und die Zeit so weit reichende Ansichten haben wie in Indien.
TIZIANO: Wie denn auch, Folco? Wenn du in einer europäischen Stadt geboren wirst und aufwächst, wenn du in eine westliche Schule gehst, wo es vor allem darauf ankommt, mit deinem Banknachbarn zu konkurrieren, wie sollst du da geistige Offenheit entwickeln? Wenn du nicht angeregt wirst zu lernen, um das Leben zu begreifen, sondern nur, um einen Beruf zu erwerben und Geld zu verdienen? Aber auch hier, das hast du selbst gesehen, gibt es Menschen wie den jungen Ordensbruder aus San Miniato in Florenz, die nicht sagen: „Stoppt die Welt, ich will aussteigen“, sondern die selbst einhalten, aus dem Zug aus- und in einen anderen einsteigen, wo sie womöglich eine wunderbare Tradition und auch ein paar Antworten finden.
Ich wende mich nur gegen die Vorstellung, Indien sei ein Allheilmittel; das ist ein ideologischer Irrglaube. Antworten gibt es überall. Die Inder haben allerdings ein paar besonders schöne.
Eines Tages gingen deine Mutter und ich in sengender Hitze durch Delhi und kamen am Sai Baba Mandhir vorbei, wo gerade eine Zeremonie zu Ende war. Die Leute strömten aus dem Tempel, und unter ihnen fiel uns ein Mann auf, der eine gewisse Ähnlichkeit mit mir hatte, ein stattlicher Inder mit einem dichten Schnurrbart, vielleicht ein Anwalt oder ein Ingenieur. Er trug eine ellenlange Kette aus leuchtenden orangefarbenen Blüten um den Hals und murmelte ein Mantra vor sich hin. Sein Lächeln war so beseelt, so
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