Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens
Typen, die mit jener Welt nicht das Geringste zu tun hatten. Sie kamen mir vor wie eine Garantie dafür, dass Indien nie ein Land wie alle anderen werden würde, denn eine Gesellschaft, die Bettelmönche achtet, sich vor ihnen verneigt, um sich mit ihrer Energie aufzuladen, und ihnen zu essen gibt, kann nie durch und durch materialistisch werden. Die Sadhus sind eine Art Impfstoff, eine ständige Erinnerung an das, was du, Folco, wenn du den Mut dazu fändest, am liebsten tun würdest: auf alles zu verzichten, das Gelübde des Sannyasin abzulegen und ein Wandermönch zu werden wie sie. Klar, in Indien gibt es auch Kapitalisten, eine Menge sogar, aber die Sadhus sind ein wirksames Gegenmittel.
Indien kann allerdings auch zu einer gefährlichen Falle werden, wie die Geschichte von Charan Das zeigt.
FOLCO: Wieso?
TIZIANO: Er ist an einer Hodenentzündung gestorben.
Stell dir vor, dieser Mann, der aus einem ordentlich geregelten Leben als Student nach Indien kommt und sich auf einem Weg verliert, mit dem die westlichen Bräuche nicht das Mindeste gemein haben. Charan Das hatte sich restlos integriert, er war ein waschechter indischer Sadhu geworden. Ich habe selbst gesehen, wie er aus den fürchterlichen Kesseln in der Altstadt Delhis hundertmal aufgebratene pakora aß.
Eines Abends ging ich mit ihm durch die Altstadt, um etwas von der Schattenseite Indiens mitzubekommen. Da siehst du sie dann plötzlich in der Dunkelheit und der Kälte, Bettler, Krüppel, Kranke, Leute, denen die Gedärme aus dem Bauch hängen, wie sie in Fünferreihen vor großen Kesseln mit einem Linsengericht hocken und warten, dass jemand vorbeikommt, der ein gutes Geschäft abgeschlossen oder gerade seine Tochter verheiratet hat und ein paar Rupien spendiert, die soundso vielen Tellern Linsen entsprechen.
„Fünfzig“, schreit dann der Kerl, der am Kessel steht und rührt, und so treten die ersten zehn Reihen Todgeweihter vor. Sie bekommen ihre Ration, essen und trollen sich, und die nächsten zehn Reihen kommen dran. Diese dampfenden Kessel haben geradezu etwas Mittelalterliches. Und Charan Das hatte sich dort eingereiht und verzehrte seelenruhig seine Mahlzeit. FOLCO: Mit diesen Leuten?
TIZIANO: Ja. Er bekam seinen Teller - ganz umweltfreundlich aus getrockneten Blättern! - und aß. Irgendwann zog er sich eine Infektion zu. Er hatte einen Anhänger, der ihn zum Krankenhaus brachte, aber als man diese beiden vor Dreck starrenden Ausländer sah, die wie Sadhus lebten, jagte man sie in die Nacht hinaus wie streunende Hunde. Und am nächsten Morgen war Charan Das tot.
FOLCO: Woran war er gestorben?
TIZIANO: An einer Hodenentzündung. Die jeder x-beliebige Arzt mit einem Antibiotikum hätte heilen können.
FOLCO: Wie alt war er da?
TIZIANO: Charan Das? So alt wie du jetzt, um die Fünfunddreißig.
Indien hat tausend Aspekte, es ist Rettung und Verdammnis, Zerstörung und Schöpfung. Deshalb ist Indien auch ein Fass ohne Boden, wo ein Mensch, der nicht sorgfältig darauf vorbereitet ist, die Orientierung verlieren kann. In Indien drehen viele junge Leute durch oder begeben sich auf den indischen Weg, der zu einer Art heiliger Verrücktheit führt, und werden Sadhus. Wie Charan Das.
FOLCO: Was meinst du, hat er sein Leben verpfuscht oder war es so, wie er es wollte?
TIZIANO: Wer kann schon über das Leben der anderen urteilen?
Was ich von ihm erinnere, ist dieses fortwährende wunderbare Lächeln. Gut, am Ende mag es ihm schlecht ergangen sein, aber andererseits hat er sein Leben auch bis zum Schluss konsequent gelebt. Er hat es so gewollt. Er ist nie mehr nach Amerika zurückgekehrt, um seinen Vater zu besuchen.
Eine schwierige Frage. Es ist unmöglich, das Leben der anderen zu beurteilen. Denn auch wenn einer als junger Mann an Hodenentzündung stirbt - wer weiß, vielleicht hat sich sein Schicksal auf diese Weise erfüllt?
Er nimmt seine Tasse und trinkt den letzten Schluck Tee.
GANDHI
TIZIANO: Was haben wir für Zeiten hinter uns! Überleg mal, Folco, die westliche bürgerliche Gesellschaft, die nicht lange nach der Industrialisierung den Ersten Weltkrieg beginnt. Mein Gott, was für eine Katastrophe, welch moralische Erschütterung!
Am Ende des Kriegs war Europa am Boden zerstört, und nicht nur physisch. Wie konnte unsere Gesellschaft nur so weit kommen? Schützengräben, Giftgase, Millionen von Toten. Für nichts und wieder nichts! Es war eine Zeit tiefer Krise, die viele Europäer dazu brachte, nach etwas zu suchen, was
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