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Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens

Titel: Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tiziano Terzani
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könntest dich auch darauf beschränken zu sagen: „Dieses Waldstück heißt ‚Das Grab‘.“Sobald du aber darüber nachdenkst, oder meinetwegen auch aufhörst zu denken, wird dir klar, dass dieser Wald ein eigenes Leben hat, eine eigene Geschichte, und alles wird viel schöner. In Indien oder Tibet ist jeder Stein eine Gottheit, auf jedem Felsen findest du eine Inschrift. Und so ist es im ganzen Leben. Die Tatsachen, diese verfluchten Tatsachen, die alles zu sein scheinen, obwohl sie in Wirklichkeit nichts sind, verbergen den Rest. Das Schöne liegt dahinter! Du magst einwenden: „Das ist doch alles nur Aberglaube! “Aber das stimmt nicht, denn in all diesen Geschichten spiegeln sich menschliche Verhaltensweisen. In den großen Religionen wie dem Hinduismus gibt es unzählige Gestalten, die die Gottheit verkörpern, unzählige Gesichter einer einzigen Wahrheit. Warum sollte man sich all dessen berauben? Das finde ich so schade, so jammerschade.
    Als ich nach Tibet kam, beeindruckte mich tief, dass jeder Stein dort seine eigene Geschichte hatte, das weiß ich noch. Kommst du heute hin, stehst du vor dem üblichen Supermarkt. Was mir dabei wehtut, ist, wie wir unser Leben halb gewollt, halb achtlos immer ärmer machen.
    In der Tür erscheint ein lächelndes bärtiges Gesicht.
    FOLCO: Sieh mal an, wer da kommt!
    TIZIANO: Mario! Wie schön! Was hast du uns denn mitgebracht?
    MARIO: Eier, ein bisschen Salat, von dem ganz zarten, wie du ihn magst, und frisch gepflückte Erdbeeren.
    Papa klatscht in die Hände.
    Ist das eine Gluthitze heute!
    TIZIANO: Gluthitze? Es ist das reinste Paradies!
    MARIO: Nein, nein, Tiziano. Du sitzt hier im Kühlen, aber ich habe mich auf dem Erdbeerbeet in der Sonne klitschnass geschwitzt! Den Korb muss ich wieder mitnehmen. Soll ich eine Schüssel für die Erdbeeren suchen?
    FOLCO: Das mache ich schon.
    MARIO: Nein, nein, bleib ruhig sitzen.
    Mario verschwindet.
    TIZIANO: Was für ein wunderbarer Mensch!
    FOLCO: Weißt du, gestern bei der Arbeit mit Mario im Gemüsegarten ist mir aufgegangen, dass es eigentlich überflüssig ist, die deutschen Philosophen zu lesen. Um Kartoffeln anzubauen, setzt man eine alte in den Boden, lässt sie vermodern, und aus dem Tod der alten Kartoffel entsteht das Leben der neuen. Die alte wirkt wie Nahrung, aus einer werden viele. Das reicht doch. Da gibt’s nicht viel zu lesen.
    TIZIANO: Man opfert die alte Kartoffel, ihr Ende ist … Schön, wie du das gesagt hast: Eigentlich braucht man die deutschen Philosophen gar nicht zu lesen!
    FOLCO: Wenn du im Gemüsebeet arbeitest, ist alles so einleuchtend. Was brauchst du große Theorien? Du hast es doch Tag für Tag vor Augen.
    TIZIANO: Weißt du, Folco, wenn du von unserem Rasen auf dieses wunderbare unversehrte Tal hinausblickst, begreifst du, dass diese Gegend mir zu etwas verholfen hat, was ich immer gesucht habe: zu einem anderen Blickwinkel.
    Das ist Orsigna für mich. Und ich finde es schön, hier zu sterben. Ich spüre die Seele dieses Ortes, weil ich sie erlebt habe. Dies ist mein Himalaja. Schon als Kind habe ich hier den Zauber des Lebens und vor allem der Natur wahrgenommen. Die Moderne drängt ihn immer weiter zurück, und doch bleibt er weiterhin erhalten in den Bäumen, den Wäldern, den Sonnenuntergängen, wenn die Sonne hinter dem Pedata del Diavolo versinkt.
    Es wäre schön, wenn auch meine Enkel in einer Welt leben könnten, die sie erstaunen lässt, in der es überall etwas Wunderbares zu entdecken gibt. Gestern Abend habe ich das erste Glühwürmchen gesehen und bin stehen geblieben, um es zu betrachten. Bei diesem Blink-blink-blink im Dunkel der Nacht überkam mich ein tiefes Glücksgefühl!
    FOLCO: Wo war das denn?
    TIZIANO: Dort auf dem Stein, der von diesem scheußlichen Strauch überwuchert wird. Den müssen wir mal zurückschneiden. Als ich klein war, erzählten mir meine Eltern herrliche Geschichten über Glühwürmchen. Sie sagten, wenn du eines fängst und unter ein umgestülptes Glas setzt, findest du morgens eine Münze darunter. Nie vergaßen sie die Münze, und das machte meine Welt schöner und reicher. Es wäre herrlich, wenn auch meine Enkel Glühwürmchen gezeigt bekämen und über die Wunder der Welt staunen könnten.
    Im Himalaja gibt es Raupen, die nachts so hell leuchten wie grüne Lampen. Unglaublich! Wäre es nicht schön, den Kindern Geschichten über diese Raupen zu erzählen? Dadurch würde ihre ganze Welt reicher und lebendiger und erhielte verschiedene

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