Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens
über den Fluss - und merkst schließlich, dass das alles nicht die Lösung ist.
FOLCO: Wo ist sie dann?
TIZIANO: Ich glaube, die Lösung ist, an sich selbst zu arbeiten. Wirst du selbst besser, machst du etwas aus dir, wirst du dir bewusst, wie sinnlos alles andere ist, dann kannst du womöglich den Grundstein für etwas Großes legen, etwas, was ich für wesentlich halte: die Evolution des Menschen auf eine höhere Stufe.
So bin ich schließlich im Himalaja gelandet. Keine Politik, keine Revolutionen mehr. Wozu auch?
Da tust du dann, was alle Suchenden der Vergangenheit getan haben: ūpar, ūpar! Immer weiter hinauf, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne, upar, upar, upar!, den Berg hinan. Ich hatte das Glück, auf diesem Weg erst dem Swami, dem Lehrer des Ashrams, und schließlich dem Alten zu begegnen. Dort, vom Rest der Welt abgeschnitten, habe ich mich ausschließlich mir selbst gewidmet und endlich für einen Moment lang den Schimmer von etwas erlebt, was jenseits liegt.
FOLCO: Im Grunde entspricht das dem Ideal des Sadhus, der fortgeht, um sich selbst zu ändern. Und seine individuelle Wandlung, die sich in einer einsamen Eishöhle vollziehen kann, verändert dann womöglich auch die Welt. Die Inder haben eine mystische Erklärung dafür: Dank der besonderen Kräfte, die der Eremit erworben hat, werden seine Gedanken Wirklichkeit, auch ohne zu handeln.
TIZIANO: Hm. Das ist Ausdruck einer Hoffnung.
FOLCO: Ein Sadhu hat mir einmal etwas Interessantes gesagt. Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber mir kam es sinnvoll vor. Er meinte, achtundneunzig von hundert Gedanken hat man schon mal gehabt. Auch die Gedanken wiederholen sich. Deshalb kann man sie genauso gut anhalten, also ganz zum Schweigen bringen. In der Stille findet man dann vielleicht einen oder zwei Gedanken, die wirklich neu sind.
TIZIANO: Du hast völlig recht, man denkt immer dasselbe, wie alle anderen übrigens auch. Aber einzuhalten, um zu versuchen, etwas anderes zu denken?!
FOLCO: Dazu muss man sich allerdings …
TIZIANO: … zurückziehen.
FOLCO: Genau.
Es gibt heute unendlich viele Reize, die dem Geist keine Ruhe lassen. Zu Hause läuft der Fernseher und im Auto das Radio, jeder Bus ist mit bunter Werbung bedruckt und immerzu klingelt das Telefon. Einem längeren Gedankengang zu folgen, ist unmöglich. Die Gedanken sind kurz, weil man ständig unterbrochen wird.
TIZIANO: Du hast vollkommen recht. Unsere Gedanken sind kurz wie Werbespots. Es gibt keine Stille mehr.
FOLCO: Als ich bei Mutter Teresa in Kalkutta arbeitete, gab sie mir einmal, was sie ihre „Visitenkarte“nannte. Darauf stand: „Die Frucht der Stille ist das Gebet.“Damit beginnst du, mit Schweigen, mit Stille. Nach Mutter Teresa führt die Stille zum Gebet, das Gebet zum Glauben, der Glaube zur Liebe und die Liebe zur Tat. Doch am Anfang dieses Prozesses steht die Stille. Fragte sich jemand: „Wie ist es möglich, sich zu verändern?“, gab sie immer eine ganz einfache Antwort: Beginn mit Schweigen.
TIZIANO: Ja, in allen Religionen hat Schweigen eine große Rolle gespielt. Christus ist in die Wüste gegangen, ein anderer geht in die Berge. Ich selbst habe es im Meditieren ja leider nicht besonders weit gebracht, doch die halbe Stunde, die zehn Minuten, manchmal auch die ganze Stunde, die ich mir morgens nehme, genieße auch ich die Stille. Ich lasse zu, dass der Geist sich beruhigt, und beobachte die Gedanken, als wären sie etwas Äußeres.
TIZIANO: Du kennst Indien und die dort übliche Unterteilung des Lebens in vier Stadien besser als ich. Im ersten ist man jung und lernt; im zweiten gibt man der Gesellschaft zurück, was man von ihr bekommen hat, also man arbeitet und versucht, ein guter Ehemann und Familienvater zu sein; im dritten, wenn die familiären Pflichten erfüllt sind, geht man in den Wald, gegebenenfalls mit ein paar Büchern und in Begleitung seiner Frau. Und wenn du das schaffst, kommt am Ende das vierte und letzte Stadium. Da gehst du allein auf die Suche nach Gott.
FOLCO: Oft habe ich bemerkt, dass du in den Augen der Inder jemand bist, der in der Welt, in den praktischen, materiellen Dingen Erfolg gehabt hat: Du hast deine Familie zusammengehalten, eine solide finanzielle Situation geschaffen, deine Arbeit gut gemacht und so weiter.
TIZIANO: Ja, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Der erklärt übrigens auch mein jetziges „Loslassen“. Das ist meiner Ansicht nach nur möglich, weil ich meine Aufgabe als Familienvater gewissenhaft
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