Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens
du im Zug deinen Mitreisenden stolz erzählst, du seiest Postdirektor gewesen, müsste eigentlich das ganze Abteil in schallendes Gelächter ausbrechen. Du warst Postdirektor - na und? Ha, ha, ha! Dein Gegenüber war vielleicht sogar General! Ha, ha, ha!
Doch mit der Zeit interessiert dich das alles nicht mehr und du gehst fort, um Anam zu werden, der Namenlose. War das eine Entdeckung, keinen Namen mehr zu haben! Anam ist wie die Lotosblume, die im Schlamm wächst, nicht? Fort mit allem anderen, fort! Ich bin nicht mehr Tiziano Terzani, ich bin es nicht mehr.
FOLCO: Wer bist du dann, Papa?
Er lacht.
TIZIANO: Ich habe mir dieses Leben ganz gut erfunden, nicht? Ich bin tausend Dinge gewesen, einige tatsächlich, andere potentiell, Aufschneider und Schauspieler, Mörder, Kinderschänder und Ehebrecher. Alles bin ich gewesen, wie alle anderen auch, und immer wieder etwas anderes. Vieles davon war echt und intensiv, doch immer wieder hat eines das andere ersetzt, wie bei einem Fernglas, das sich stets auf etwas Neues richtet. Meine Güte, wie viele Rollen du im Leben spielst, wie viele Masken du trägst. Bis du irgendwann keine Luft mehr kriegst und sagst: „Jetzt werfe ich sie fort - hopp!“Und so bin ich nun am Ende Anam, ein Namenloser, ohne Geschichte, ohne Vergangenheit. Denn das ist alles über flüssiger Kram, um den sich der Kuckuck nicht schert. Nicht, weil er etwas dagegen hätte, sondern weil es ihm einfach egal ist. Und so ruft er sein „Kuckuck“vielleicht auch für mich.
Du fragst mich, Folco, wer ich bin. Gut. Lange Zeit bin ich eine unendliche Folge von Masken gewesen, jede einzelne wahr, jede einzelne falsch, denn mit der Zeit wandeln sie sich, und immer wieder geht eine in die nächste über. Das ist eine Wahrheit, die alle Weisen begriffen haben: Es gibt keine Beständigkeit. Nichts im Leben ist beständig, nichts. Und ausgerechnet du willst beständig sein? Wie kommst du denn darauf!
FOLCO: Jetzt hast du nicht mehr das Gefühl, eine Maske zu tragen?
TIZIANO: Nein. Und das gibt mir dieses Gefühl enormer Freiheit. Ich fühle mich leicht. Ich spüre, dass mich nichts mehr berührt, denn ich bin weder diese oder jene Maske, noch dieser Körper, noch meine Erinnerungen … Ich bin etwas, was viel größer, viel kleiner, viel gewaltiger ist, doch all diese einzelnen Dinge bin ich nicht. Und da ich nichts Bestimmtes bin, kann ich mir erlauben zu denken, ich sei alles.
Ich lache.
FOLCO: Gäbe es diese berühmte Pille, die das Leben um zehn Jahre verlängert, würdest du dann noch das vierte Stadium angehen wollen? Das bei den Indern darin besteht, Sadhu zu werden, ein Bettelmönch, der alle und alles hinter sich lässt?
TIZIANO: Nein, das liegt mir nicht. Ich war mein Leben lang einer auf halbem Wege, ich stand stets in der Mitte der Furt. Diesen letzten Schritt, für immer in den Bergen zu verschwinden, könnte ich nicht tun. Ich bin kein Erleuchteter.
FOLCO: Du könntest es doch versuchen. Klar, von zehntausend, die es probieren, gelingt es vielleicht nur einem … aber der fände vielleicht etwas, was er dann auch den anderen weitergeben könnte. Er täte es auch für die anderen.
TIZIANO: Natürlich. Aber mir liegt so etwas nicht. Ich habe meine Bücher geschrieben, aber ein Prophet oder ein Guru könnte ich nie sein. Ich bin nichts als ein einfacher Mensch, einer aus Monticelli. Ein Florentiner, der nach etwas Anderem gesucht, hier und dort ein wenig genascht und dabei jede Menge Erfahrungen gesammelt hat.
FOLCO: Es gibt da eine Frage, über die wir schon manchmal gesprochen haben, auf die ich aber noch einmal zurückkommen will, weil sie eines der Dinge betrifft, die mir persönlich am meisten am Herzen liegen. Die Inder - vor deren Kultur du großen Respekt hast und zu denen du gegangen bist um, wie du sagtest, von ihnen das Sterben zu lernen - also, die Inder glauben, dass der Mensch durch die Auslöschung des Ichs etwas erreichen kann, was sie die Erleuchtung nennen.
Was in aller Welt meinen sie damit? Was ist diese berühmte Erleuchtung?
Papa lacht.
Nein, wirklich, das interessiert mich brennend. Was ist es? Wovon sprechen sie? Wie offenbart es sich? Wer ist ein Erleuchteter? Was ist Erleuchtung? Was ist es bloß?!
TIZIANO: Eine Illusion …
Er nimmt einen Schluck Tee.
… die dir aber eine gewisse Disziplin verleiht. Und Hoffnung.
FOLCO: Und das soll alles sein?
TIZIANO: Wie vielen Erleuchteten bist du begegnet? Ich keinem. Einem halben, einem viertel … einem,
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