Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens
er die Berge gern noch einmal von oben sähe. Es gibt eine schöne Wiese, wo wir als Kinder manchmal mit ihm gewesen sind und an die man mit dem Auto inzwischen ganz nah heranfahren kann. Zuerst sagt er nein, doch dann nimmt er meinen Vorschlag freudig an. Das letzte Stückchen gehen wir zu Fuß, einen mit alten, bemoosten Steinen gesäumten Weg entlang. Über die Berge jagen Scharen grauschwarzer Wolken, die sich vor dem blauen Himmel verdrehen und immer wieder ihre Form ändern. Es ist, als wären wir auf einem Schiff, das durch den Raum fliegt. Mit überkreuzten Beinen setzt Papa sich mitten auf die Wiese, und mit einer Ausrede verschwinde ich zwischen den Tannen und lasse ihn allein. Als ich wiederkomme, sitzt er noch immer unbeweglich da, lässt sich den Wind ins Gesicht blasen und sieht in die Ferne. Ich helfe ihm aufzustehen, doch bevor wir wieder gehen, bückt er sich, pflückt einen langen Grashalm, streift den Blütenstand ab, macht einen Knoten an der Spitze und zieht den Halm hindurch, sodass eine Schlaufe entsteht.
TIZIANO: Folco, wie wunderbar, dass du hier bist! Ich bin dir so dankbar für diesen Spaziergang, er war ein richtiges Geschenk. Siehst du, wie das Leben sich zu einem Kreis schließt? Überleg mal, wie viele Ausflüge ich früher mit dir dort oben in die Berge gemacht habe. Nachts haben wir gezeltet, es war kalt, wir haben Feuer gemacht und uns in unseren Töpfchen etwas gekocht. Und dann: „Folco, aufstehen, damit wir den Sonnenaufgang nicht verpassen!“Was du bist, bist du auch dank dieser Erlebnisse, weißt du? Und nun bringst du mich hier herauf. Und ich zeige dir, wie man Schlaufen macht, um Eidechsen zu fangen, und wenn im Sommer dein Sohn kommt, kannst du ihm das beibringen. Schön.
Als wir wieder zu Hause sind, hat er keine Kraft mehr für unser gewohntes Gespräch. Und auch ich habe praktisch nichts mehr, was ich ihn noch fragen möchte. Doch! Als er so in die Betrachtung der Wolken versunken war, ist mir etwas in den Sinn gekommen.
FOLCO: Papa, was siehst du, wenn du die Welt betrachtest?
TIZIANO: Gute Frage. Darüber muss ich nachdenken.
AN DIE JUGEND
Wir sitzen in unseren Sesseln unter dem Ahorn. Es ist herrliches Wetter und um uns herum schnattern zwei Enten, Neuankömmlinge, die scheu den Garten erkunden. Das Kätzchen ist kräftig gewachsen, und um seine Stärke zu beweisen, treibt es die Enten in die Flucht. Doch immer wieder gelingt es ihnen, zu dem beruhigenden Geplänkel menschlicher Stimmen zurückzukehren.
FOLCO: Also, willst du anfangen?
TIZIANO: Nein! Sonst geh ich gleich wieder.
Ich lache.
FOLCO: Wohin denn, bitteschön!?
Also gut. Es gibt etwas, Papa, was ich einen alten Menschen schon immer mal fragen wollte. Am Ende eines langen Lebens, in dem man so viel gesehen hat, was hat man da gelernt?
TIZIANO: Mein lieber Folco, auf diese Falle habe ich schon lange gewartet. Es ist typisch für die Jungen, die Alten zu fragen: „Was habt ihr uns eigentlich beizubringen?“Vor Jahren habe ich das elegant gelöst, indem ich dir die einzige Lehre meines Lebens weitergab, die du eines Tages vielleicht gebrauchen könntest. Mein Erlebnis mit den Roten Khmer hat mich folgendes gelehrt: Wenn jemand ein Gewehr auf dich richtet, lächle ihn an! Das hat mir in Kambodscha das Leben gerettet und uns beiden später, als wir den Schatz von Yamashita suchten, aus der Patsche geholfen.
Natürlich könnte man sich mit einer geistreichen Bemerkung aus der Affäre ziehen. Eine ernsthafte Antwort aber ist gar nicht so einfach. Gandhi hat gesagt: „Mein Leben ist meine Botschaft.“Doch wie viele Menschen können so etwas von sich behaupten? Die wenigsten. Ich jedenfalls würde es niemals wagen, eher würde ich mir die Zunge abbeißen. Aber auf meine Weise habe auch ich eine Vorstellung vom Sinn meines Lebens.
Wenn du mich fragst, was ich am Ende hinterlasse, würde ich sagen, ein Buch, das manch einem vielleicht hilft, besser mit der Welt zurecht zu kommen, sein Leben mehr zu genießen und sich in einem größeren Zusammenhang zu sehen, wie ich es jetzt so stark empfinde. Und außerdem hinterlasse ich ein paar Erinnerungen in Menschen wie dir und Saskia. Für mich hieß Vatersein nicht, „Kille-kille-kille!“zu machen, zusammen ins Schwimmbad zu gehen oder Fußball zu spielen. Für mich hieß es, Erinnerungen zu säen, Erfahrungen, Gerüche, und euch eine Vorstellung von Schönheit und Größe zu vermitteln, die euch im Leben weiterhelfen würde. Deswegen habe ich euch ja so
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