Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens

Titel: Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tiziano Terzani
Vom Netzwerk:
Blick, er krabbelte hierhin und dorthin, und schließlich gelangte er ans Ende eines Grashalms, breitete seine kleinen, samtigen Flügel aus und - hui! - flog er davon. Doch nicht etwa zu einem anderen Grashalm, ins Unendliche! Unter uns gähnte ein mehrere hundert Meter tiefer Abgrund, und dieser wunderbare kleine Kerl mit den glänzenden, gepunkteten Flügeln flog auf die Berge zu. Da, Folco, glaub mir, habe ich wirklich gespürt, dass mein Leben ein Teil von alldem war.
    Gehst du dann noch einen kleinen Schritt weiter, spürst du, dass du der Wind bist und dieser Marienkäfer, also dass dein Körper... Und so lebst du weiter, genießt das Leben und bereitest dich vor. Dann ist nichts mehr schrecklich. Auf einmal interessierte mich nicht einmal mehr mein Krebs. Gut, da war diese schwere Last, aber mir blieb ja alles andere um mich herum, etwa die Himalaja-Zedern, die seit Jahrhunderten Wind und Wetter ausgesetzt waren. Ich saß zu ihren Füßen und mir war, als seien ihr Saft, mein Blut und meine Atmung ein und dasselbe, und ich ein Teil davon. Wenn du einen Moment lang so ein Gefühl gehabt hast, was interessiert dich dann noch der Journalismus und die Einladung von Herrn Sowieso?
    Als ich an jenem Abend ins Bett ging, war ich vollkommen in Trance. So bin ich. Ich bin kein Intellektueller, kein Erbauer großer Reiche, kein Prophet, ich bin einer, der am Ende seines Lebens auch seine Körperlichkeit genossen hat. Und ausgerechnet ihr, und zweifellos auch dem Alten, habe ich es zu verdanken, dass ich das Materielle überwinden konnte. Ich konnte einen höheren Sinn erkennen, der mit all dem zusammenhing und der jetzt mein großer Trost ist.
    Das nimmt mir keiner mehr weg. Keiner.
    Er wirkt erschöpft.
    Klar, dann ist da immer noch dieser andere Teil, das muss man einfach zugeben … Weißt du, wenn dich diese furchtbaren Schmerzen durchbohren, hier, dort, im Magen, verlangt der Körper unendlich viel von dir. Er verlangt deine ganze Aufmerksamkeit, er will nicht, dass du dich ablenken lässt. Gelingt dir das aber doch einen Moment, dank einer Pille oder weil deine Aufmerksamkeit von etwas anderem angezogen wird, fühlst du dich wie ein anderer Mensch. Mir geht es gut, wirklich, das ist nicht gelogen, und es wäre auch nicht recht, dich in dieser Sache anzulügen. Am liebsten würde ich lachend sterben. Und sollte das sehr schwer oder gar unmöglich sein, lachen wir eben nicht ganz so lange - und das war’s dann.
    Das spüre ich ganz stark, und das ist das Ergebnis der drei Jahre mit dem Alten. Ach was, der ersten drei Wochen! Was du brauchst, ist eine Gelegenheit. Manchmal war er durchaus grausam, obwohl es sicher nicht immer nötig gewesen wäre. Aber wenn es jemanden gibt, der Tiziano Terzani zertrümmert hat, dann er. „Der Tag, an dem es mir gelingt, dein Ego aufzubrechen, wird es bis zum Himmel stinken!“, hat er immer gesagt.
    FOLCO: Mama sagt, sie habe euch einmal nebeneinander den Weg zum Wald hinuntergehen sehen, zwei alte Männer, du baumlang und er klein wie ein Zwerg und noch viel älter als du. Dabei habe sie den Eindruck gehabt, am liebsten hättet ihr euch geprügelt.
    Papa lacht.
    TIZIANO: Der Alte sagte immer: „Du musst loslassen, loslassen, alles, was du kennst. Lass es los. Hab keine Angst, mit leeren Händen dazustehen, denn eben dieses Nichts wird letztlich deine Stütze sein.“
    FOLCO: Wie, unsere Stütze wäre …?
    TIZIANO: Unsere Stütze ist doch nicht all der überflüssige Kram, an dem wir hängen. Wer hält das alles zusammen? Wer, oder was? Stiege die Temperatur nur um ein paar Grad an, würden die Polarkuppen schmelzen, und alles wäre vorbei. Aber noch ist es nicht so weit. Wer lässt die Vögel zwitschern? Es gibt ein kosmisches Wesen, und wenn du einmal gespürt hast, dass du ihm angehörst, brauchst du nichts anderes mehr. Damit geht alles los.
    Die ersten Wochen dort oben im Himalaja waren magisch. Sie haben mich vollkommen umgekrempelt. Auf einmal erschien mir alles in einem anderen Licht, alles bekam eine andere Bedeutung. Damals habe auch ich - das muss ich dir gestehen, obwohl ich mir am liebsten auf die Zunge bisse - dieses Aufleuchten erlebt, das du bei deinem Tibeter erfahren hast. Einen Augenblick, nachts, weißt du, während einer Meditation. Etwas, was … Auf einmal war ich jenseits. Und das …
    Er verstummt.
    Womöglich ist es nur ein Tropfen, doch ist es wie der Ozean.

ZWISCHENSPIEL
    Zu einem Spaziergang ist Papa nicht mehr fähig, doch ich bin mir sicher, dass

Weitere Kostenlose Bücher