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Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens

Titel: Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tiziano Terzani
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In einem Fenster tauchte ein alter Mann auf. Er konnte Chinesisch, und wir unterhielten uns eine volle Stunde. Er erzählte mir, was geschehen war. Ich bin als Einziger von uns dort gewesen, habe als Einziger das zerstörte Kloster gesehen und mit einem Augenzeugen gesprochen. Das war typisch für mich: diese Neugier, Dinge aufzuspüren, die nicht sofort ins Auge fallen.
    Der Alte verriet mir auch den Ort der Himmelsbestattungen. Denn wie du weißt, verbrennen die Tibeter ihre Toten nicht, sondern schneiden sie in Stücke und werfen sie den Geiern zum Fraß vor. In Lhasa tun sie das auf einem großen Felsen. Und auch dahin fuhr ich mit meinem Fahrrad. Mehrere Stunden saß ich etwas entfernt in einem Versteck, erlebte verschiedene Bestattungen mit und machte Fotos mit dem Teleobjektiv.
    FOLCO: Wollten die Chinesen nicht, dass man diesen Riten beiwohnte?
    TIZIANO: Nein, sie hielten das für Barbarei. Die Besucher so etwas sehen zu lassen, hätte geheißen, die tibetische Kultur offiziell zu akzeptieren. Und die Chinesen sind schreckliche Rassisten. Alle, die keine Han sind, halten sie für Untermenschen.
    Eigentlich sind alle Menschen Rassisten. Bei uns äußert sich das heute vor allem den Arabern gegenüber. „Die stinken nach Knoblauch, die waschen sich nie …“So entstehen Bilder eines Volks und einer Kultur, die später Gewalt rechtfertigen. Der erste Schritt in den Krieg ist immer die Entmenschlichung des Feindes, vergiss das nicht! Der Feind ist kein Mensch wie du, deshalb hat er auch nicht dieselben Rechte.
    Eine andere verrückte Idee kam mir, als wir den Potala besichtigten, den Palast des Dalai Lama. Der Potala ist eins der erstaunlichsten, mächtigsten, magischsten Bauwerke der Welt, eine Burg aus Stein und Stroh auf einem Felsen mitten in der unendlichen Ebene Lhasas.
    Endlich sagten die Kommunisten also: „Heute besichtigen wir den Potala.“Wir waren sieben oder acht Journalisten und hatten einen unmöglichen chinesischen Führer, der absolut nichts über den Potala wusste. Natürlich nicht: Zum Marxismus-Leninismus erzogen und dann nach Lhasa geschickt, um als Spitzel, Touristenführer oder Polizist zu arbeiten, hatte der Ärmste keine Ahnung von Tibet. Die endlosen Flure der früheren Residenz des Dalai Lama waren mit herrlichen Fresken geschmückt, und wenn du fragtest, was sie darstellten, antwortete er nur: „Götzen. “Die Chinesen kannten nicht einmal die Namen der tibetischen Götter. Nichts, gar nichts.
    Wir blieben mehrere Stunden dort. Sie zeigten uns auch die unterirdischen Gemächer voller Bücher und machten sich über die tibetischen Mütter lustig, die ihre Kinder dort hinbrachten und die Regale entlang führten, damit sie etwas von der Weisheit und Heiligkeit der Bücher abbekamen. Ich fand diesen Brauch wunderschön.
    Als unsere Gruppe die große Treppe hinunterging, um zum Bus zurückzukehren, kam mir auf einmal die Idee, mich im Potala zu verstecken. Und als das große Tor zuschlug, war ich drinnen.
    Mein Gott, ganz allein! In diesem wunderschönen Palast.
    Es war Abend, die Sonne stand nur noch knapp über dem Horizont. Ich stieg immer weiter nach oben - denn wo das Zentrum ist, spürt man - und gelangte schließlich auf die höchsten Zinnen. Unter mir erstreckte sich ewig weit die Hochebene von Lhasa, einer jener Orte, an denen man das Göttliche in sich spürt, oder es zumindest als großes Privileg empfindet, zu einer Menschheit zu gehören, die so etwas geschaffen hat. Die Ebene von Lhasa war einfach umwerfend. Später haben die Chinesen auch sie zerstört, haben sie mit ihren Supermärkten chinesisiert, aber damals war sie noch atemberaubend schön. Da lag die Altstadt mit all ihrem Gold, da standen noch die alten Häuser, deren Bewohner aus großen Töpfen aßen. Dort oben erlebte ich einen Moment tiefen Glücks. Stell dir vor: allein von der höchsten Zinne des Potala den Sonnenuntergang über dieser Ebene zu bestaunen!
    Plötzlich hörte ich Schritte. „Verflixt“, dachte ich, „wer kann das sein?“
    Es war ein Tibeter, ein Wächter der Gemächer des Dalai Lama. Er konnte Chinesisch und lud mich auf sein Zimmer zu einem tsampa ein, dem fürchterlichen tibetischen Gerstentee. Natürlich konnte ich nicht Nein sagen. Zwei, drei Stunden blieb ich bei ihm. Er saß auf seinem kang , einem Bett aus Backsteinen, die man erhitzen kann und auf denen statt einer Matratze ein ganzer Stapel Teppiche liegt. Der oberste war ein klassischer Teppich mit Pfingstrosen, nichts

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