Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens
Tradition ging auf die Zarenzeit zurück und wurde unter dem Kommunismus fortgesetzt. Man lud die ausländischen Journalisten ein, zeigte ihnen lauter wundervolle Dinge, und wenn sie nach zwei Wochen wieder abfuhren, schrieben sie womöglich noch ein Buch darüber.
Ich merkte sofort, dass auch die Chinesen solche Potemkinschen Dörfer besaßen. Was mich daran interessierte, war die Logik der totalitären Regime. Die weckte meine Neugier. In meiner ganzen Zeit in China war ich geradezu versessen darauf, kleine Episoden zu entdecken, die von dieser Mentalität zeugten; denn mit welcher Regierung auch immer ich es in meinem Leben zu tun gehabt habe - führte man mir stolz etwas vor, argwöhnte ich immer, es sei nicht echt.
In China hat sich dieser Verdacht immer mehr bestätigt. Sie erzählten einem wirklich, was sie wollten! Bei einem offiziellen Besuch in der Provinz Xinjiang zum Beispiel hatte man für uns einen Besuch bei einem Uiguren-Stamm organisiert. Die Uiguren sind Moslems und hassen die Han-Chinesen. Trotzdem behaupten diese immer steif und fest, die Uiguren anständig zu behandeln. Man brachte uns also in eines dieser Jurten-Dörfer, wo zwischen malerischen Zelten Kamele und Pferde grasten und Kinder Fußball spielten, und der Vorsitzende der mongolischen Partei erzählte uns, wie wunderbar die chinesische Partei war … Und was tat ich? Ich hob eine Ecke des Teppichs, auf dem wir saßen, ein wenig an - und entdeckte darunter grünes Gras! Der Teppich war am Abend zuvor dort hingelegt worden!
Um solche Lügen aufzudecken, braucht man den Spürsinn eines Detektivs, verstehst du? Und eine Einstellung von der Sorte: Mich verschaukelst du nicht! Diese Einstellung hat mein Leben in China bestimmt - und war dann sicherlich auch einer der Gründe für meine Ausweisung.
Ich lache.
FOLCO: In deinen Artikeln konntest du darüber natürlich nicht schreiben. Aber uns hast du diese Geschichten erzählt, wenn du von deinen Reisen wiederkamst.
TIZIANO: Ja, euch und meinen Kollegen, beim Abendbrot.
Wir Journalisten durften also durch China reisen. Zwar nur mit offizieller Begleitung, aber immerhin. Hielt unser Bus irgendwo, stand immer schon ein lokaler Parteifunktionär da: „Ni hao, ni hao, ni hao! He cha, he cha, he cha!“ , und dann wurde im Empfangssaal Tee gereicht. Und ich? Ich verdrückte mich schleunigst hinter den Bus und verschwand in der Stadt. Natürlich wurde ich schon bald wieder aufgegabelt, denn spätestens nach einer Viertelstunde fiel auf, dass dieser seltsame Italiener, der für eine deutsche Zeitschrift schrieb und sich wie ein Chinese kleidete, verschwunden war. Dann wurde ich ins Gästehaus der Partei zurückgebracht und es hieß: „Bitte, trinken Sie doch noch eine Tasse Tee!“
So war ich eben. Auch später in Tibet. Auch da gehörte ich zu den Ersten, die eingelassen wurden …
Papa wühlt in einem Haufen Fotos auf dem Tisch und fischt eines heraus.
Das ist Tibet. Mein geliebtes Tibet! Jahrelang war es hermetisch abgeschlossen gewesen. Keiner wusste, was geschehen war. Nur vom Hörensagen wusste man, dass die Chinesen alles zerstört hatten, auch die großen Klöster wie Ganden oder Sera.
Mit einer kleinen Gruppe von Journalisten fuhr ich für etwa zehn Tage nach Lhasa. Am ersten Tag blieb ich im Bett, denn in solchen Höhen verhält man sich anfangs am besten ganz ruhig. Als die Kopfschmerzen am nächsten Tag nachließen, hatte ich einen genialen Einfall. Ich hatte eine Polaroidkamera im Gepäck, denn ich wusste, dass man sich damit bei den Leuten leicht beliebt machen konnte, vor allem bei den Kindern. Ich nahm sie mit zum Markt und fand einen nepalesischen Händler, der sich auf ein Geschäft mit mir einließ: Du bekommst meine Polaroid mit vier, fünf Filmen und ich bekomme dafür drei, vier Tage lang dein Fahrrad. Hinterher gebe ich es dir wieder zurück.
Und so war ich frei!
Ich brannte darauf, Sera zu besichtigten, eines der größten und schönsten Klöster etwa zehn Kilometer von Lhasa entfernt, doch die Chinesen hatten uns die nötige Erlaubnis verweigert. Also behauptete ich eines Morgens, als die anderen ins Museum der Revolution oder so gingen, ich fühlte mich nicht gut, ich hätte Durchfall, doch sobald sie weg waren, stieg ich auf mein Fahrrad und - hui! - ab ging’s zum Kloster Sera.
Eine Ruine! Und keine Menschenseele. Ich sammelte ein paar alte, bunte Scherben auf. Die Roten Garden hatten das Kloster komplett zerstört. Doch meine Anwesenheit war bemerkt worden:
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