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Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens

Titel: Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tiziano Terzani
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das wirklich ein Kuckuck war. Ich hatte ihn mir immer wie eine Schleiereule oder einen Uhu vorgestellt, dabei sieht er aus wie eine kleine, aschgraue Taube. Da sitzt er ganz ruhig und macht „kuckuck, kuckuck“!
    Wir sollten für Novalis ein Vogelbuch besorgen, ein schönes, wissenschaftliches, mit bunten Bildern, damit er die Vögel zu unterscheiden lernt. Es ist schön, einen Sinn für die Natur zu entwickeln. Und dein Sohn findet es bestimmt spannend, wenn du ihm die Geschichte dieses Vogels erzählst, der kein Nest baut, sondern immer umherzieht. Und dann bringst du ihm das Lied bei: „Kuckuck, kuckuck, vorbei ist der April …“
    Er muss husten.
    Doch zurück nach China. Wir müssen herausfinden, was die Erfahrungen, die ich dort sammelte, für mich bedeuteten. Am schwersten wog wohl die Enttäuschung über die immense Kluft zwischen all den Entbehrungen, die die Menschen auf sich genommen hatten, all dem Elend, Schrecken und Tod - und dem Resultat dieser Opfer.
    Wir hatten Glück: Da wir fünf Jahre lang in Hongkong gelebt hatten, fehlte es uns nicht an Namen von Chinesen, zu denen wir in Peking Kontakt aufnehmen konnten, und da wir bereits Chinesisch sprachen, lernten wir viele interessante Menschen kennen, Kalligraphen, Wissenschaftler, Professoren, alles Leute, die an den Sozialismus geglaubt und ihr Leben in seinen Dienst gestellt hatten und nun tief enttäuscht und ratlos dastanden, weil ihr Projekt missglückt war und die Menschen so unendlich gelitten hatten.
    Es war ein besonderer Moment. Immer mehr Städte und Tempel wurden geöffnet, und es war möglich, an Informationen zu kommen - inoffiziell, natürlich -, die vorher absolut unzugänglich waren. Die Leute begannen, von der Barbarei während der Kulturrevolution zu erzählen, von den Rotgardisten, die in ihre Wohnungen gekommen waren und außer den Büchern auch all die schönen, kleinen Wertgegenstände verbrannt hatten, die sich oft seit vielen Generationen im Besitz gebildeter Chinesen befanden.
    Wenn wir unsere chinesischen Freunde zum Abendessen einluden, mussten sie eine Erlaubnis bei ihrer Arbeitseinheit, der danwei, einholen, die sie dann womöglich verpflichtete, über den Abend Bericht zu erstatten. Um das zu umgehen, schmuggelten wir unsere Gäste manchmal heimlich an den Wachposten am Tor unseres Wohnkomplexes vorbei: Wir holten sie an ungewöhnlichen Orten ab, ließen sie sich auf die Rückbank unseres Autos legen und breiteten eine Decke darüber. Das Problem war die Frau im Aufzug, die ebenso wie unser Koch und unsere ayi , das Zimmermädchen, den Besuch eines Chinesen melden mussten. Koch und ayi gaben wir an solchen Abenden frei, und der Aufzugdame schlugen wir ein Schnippchen: Einer von uns fuhr mit dem Aufzug hinauf, während der andere mit dem Gast vorsichtig die Treppen hinaufstieg. Wenn man sich dann noch vor den Mikrofonen in der Wohnung in Acht nahm, konnte man einen schönen Abend verbringen.
    Stundenlang haben wir uns von unseren chinesischen Freunden ihre Erlebnisse aus den Jahren erzählen lassen, in denen China vom Rest der Welt abgeschottet gewesen war. Wir wollten verstehen, wie es zur Kulturrevolution gekommen war, wie es möglich war, dass ein Volk mit einer so großen Tradition und Kultur sich in dieser perversen Spirale von Gewalt, die Millionen von Opfern gefordert hatte, dermaßen erniedrigt hatte.
    Was unsere Freunde uns erzählten, hatte mit Maos Rotem Buch oder der propagandistischen Literatur des Neuen Chinas absolut nichts gemein. Schon bald erkannte ich, dass mein Traum, der Traum eines jungen Studenten, der sich an der Columbia University mit China beschäftigt hatte, für die Chinesen ein Alptraum gewesen war.
    Das war meine erste große Enttäuschung.
    FOLCO: Hatte die Kulturrevolution nicht schon begonnen, als du in der Columbia University warst?
    TIZIANO: Doch, sie war in vollem Gange. Aber wir wussten ja nur, was die Propaganda uns weismachte. Und das hatte mit dem wirklichen Leben in China wenig zu tun.
    Weißt du, der revolutionäre Aufbruch reißt die Menschen mit, weil es da etwas Neues gibt, für das sie sich begeistern und einsetzen können. Mit der Revolution ist es wie mit einem Kind: Am Anfang ist es klein und hübsch, doch Jahre später wird es womöglich zu einem hässlichen, gemeinen Kerl. Jede Revolution hat in ihrer Geburtsstunde etwas Faszinierendes, denn sie verspricht etwas Neues. Stell dir vor, heutzutage gäbe es einen Savonarola oder eine Jungfrau von Orléans, die sagten:

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