Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens
in Qufu waren, der Stadt von Konfuzius? Da gab es doch eine Menge zu lernen! Erinnert ihr euch noch an das Grab von Mengzi? Dort in Shandong?
FOLCO: Wer war denn Mengzi?
TIZIANO: Einer der großen chinesischen Philosophen, ein Nachfolger von Konfuzius. Er lebte im vierten Jahrhundert vor Christus. Könnt ihr euch noch an die Segelräder auf der Straße zu seinem Grab erinnern?
FOLCO: Nein.
TIZIANO: Die Fahrräder waren mit Segeln ausgestattet, um den Anhänger leichter transportieren zu können. Und Pingyao, kannst du dich daran noch erinnern, Folco?
FOLCO: Ja, Pingyao, die Stadt mit den alten Stadtmauern, deren Einwohner noch nie einen Ausländer gesehen hatten. Das war unglaublich beeindruckend.
TIZIANO: Eigentlich besaßen wir gar nicht die Erlaubnis, diese Stadt zu besuchen. Aber zum chinesischen Neujahrsfest waren wir nach Taiyuan gefahren und ich wusste, dass Pingyao, eine der wenigen antiken Städte, die noch von einer Stadtmauer umgeben waren, nur etwa hundert Kilometer entfernt lag. Pater Pieraccini, ein alter Missionar aus der Toskana, der seit seiner Ausweisung aus China im Jahre 1949 in Hongkong lebte, hatte mir erzählt, das sei vormals seine Diözese gewesen. Ich konnte der Versuchung, dorthin zu fahren, einfach nicht widerstehen. Also ließen wir Mama und Saskia in Taiyuan, gingen als Chinesen gekleidet zum Bahnhof, kauften uns Fahrkarten und fuhren nach Pingyao.
Eine wunderbare Stadt, schmutzig, völlig verraucht, aber richtig antik mit ihren uralten Türmen und Mauern. An einigen Hauswänden entdeckten wir Kreidekreuze: Offenbar gab es dort immer noch Christen, auch wenn sie offiziell verboten waren.
Wir liefen durch die Straßen, ich fotografierte - und irgendwann wurden wir von der Polizei aufgegabelt. Natürlich waren wir aufgefallen, man sah ja, dass wir Ausländer waren. Vier oder fünf sehr freundliche Polizisten brachten uns zur Parteizentrale, „He cha, he cha, he cha“ , und boten uns die unvermeidliche Tasse Tee an. Sie erklärten uns, da wir keine Reiseerlaubnis für Pingyao besäßen, müssten sie uns in den nächsten Zug setzen. Wir taten erstaunt. „Ach ja? Entschuldigung, das wussten wir ja gar nicht, das tut uns aber leid!“
Wir wurden zum Bahnhof gebracht, und als der Zug bereits angefahren war, sahen wir plötzlich, wie ein Mann sich aus der Menge löste, auf unser Fenster zustürzte und auf Lateinisch rief: „Pater, Pater, gib mir deinen Segen!“Das war offenbar einer der Untergrundchristen, die die Kreidekreuze gemalt hatten. Er dachte anscheinend, ich sei ein Priester, denn die einzigen Ausländer, die vor dem Jahre 1949 in der Stadt gelebt hatten, waren Priester gewesen. Und nun wollte er, dass ich ihn segnete. Ich zauderte nicht lange, schob das Fenster herunter und segnete ihn: „In nomine Patris et Filii …“ , während er an dem fahrenden Zug entlang rannte und sich bekreuzigte.
Ein paar Monate später besuchte ich Pater Pieraccini in Hongkong. Ich erzählte ihm die Geschichte, wobei ihm vor Lachen die Tränen übers Gesicht rannen, und bat ihn um Verzeihung.
„Das hast du gut gemacht“, sagte er.
Und er vergab mir die Sünde, mich in Pingyao als Priester ausgegeben zu haben.
NEUES CHINA, ALTES CHINA
FOLCO: Du bist nicht mehr heiser, Papa!
TIZIANO: Stimmt, mit dem Sprechen habe ich keine Probleme mehr, Folco. Aber da ist etwas anderes: Ich habe das Gefühl, meine Speiseröhre ist verstopft. Weißt du, „mein Freund“frisst sich wieder ein Stückchen weiter vor. So kann ich nichts essen.
FOLCO: Tut es weh?
TIZIANO: Nein, aber ich habe es ausprobiert. Erst rutscht es ganz gut, aber hier bleibt der Bissen dann stecken, genau hier. Es ist, als ob sich da etwas zusammenkrampfte.
FOLCO: Ist das ein neues Gefühl?
TIZIANO: Ja. Vorher hat es nur manchmal ein bisschen gebrannt … Aber jetzt ist es immer da.
FOLCO: Tut es weh oder …
TIZIANO: Nein, richtig weh tut es nicht. Nun ja, man wird sehen …
FOLCO: Aber morgens verbringst du noch ein paar ruhige Stunden?
TIZIANO: Ja, heute Morgen habe ich eine ganze Stunde ruhig sitzen können. In meiner Gompa mache ich mir Tee, schlafe ein bisschen, höre Radio, meditiere mit Blick auf die Wand. Schön ist das, sehr schön.
FOLCO: Du hast es wirklich nett hier.
TIZIANO: Herrlich! Heute Morgen habe ich den Kuckuck gesehen. Er saß in der Kastanie genau vor meinem Fenster und machte: „Kuckuck! Kuckuck!“Ich war verblüfft, wie unscheinbar er aussah, und bin zu Brunalba gegangen, um sie zu fragen, ob
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