Das Ende meiner Sucht
Risiko für eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), schwere Angstzustände und Depression. Einige Forscher haben auch genetische Faktoren ins Spiel gebracht. Eine an der Mount Sinai School of Medicine durchgeführte Untersuchung fand »eine höhere Prävalenz von PTBS im Lebensverlauf, von affektiven und Angststörungen und in geringerem Ausmaß von Drogenmissbrauch … bei Nachkommen von Holocaust-Überlebenden«. Zwar gelte, »PTBS bei einem Elternteil erhöht das Risiko für eine Depression, und elterliche Traumatisierung geht mit häufigeren Angststörungen bei den Nachkommen einher«, aber die Traumatisierung der Mutter habe stärkere Auswirkungen als die Traumatisierung des Vaters. In der Studie hieß es weiter, Kinder von Frauen, die den Holocaust überlebten hatten, hätten häufiger ein niedriges Niveau des Stresshormons Cortisol und seien deshalb emotional weniger widerstandsfähig, und »die Tatsache, dass eine mütterliche PTBS das Risiko [der Nachkommen] für PTBS stärker beeinflusst als eine väterliche PTBS … legt nahe, dass epigenetische Faktoren eine Rolle spielen könnten«. Dies könne durch eine Veränderung in der Genexpression zustande kommen, die genomische Prägung heißt, wobei der genetische Beitrag eines Elternteils den des anderen überwiegt. 2
Erklären meine frühen Kindheitserfahrungen, warum ich unter Angst litt? Warum ich Alkoholiker wurde? Die alte Debatte, was angeboren ist und was anerzogen, bleibt unentschieden. Ein Wissenschaftler, der sich vor allem auf den Anteil der Erziehung an bestimmten medizinischen Problemen und Verletzlichkeiten beschäftigt, wird vielleicht auf Tierexperimente zu »erlernter Nervosität« verweisen, in denen beispielsweise die Nachkommen eines nervösen Affenweibchens dessen Verhalten nachahmen und selbst lebenslang nervös sind. Doch aus Beobachtungen in meiner Familie und bei anderen ist für mich klar, dass die Veranlagung ebenfalls – entscheidenden, wenn auch unterschiedlich ausgeprägten – Einfluss auf die genetische Prädisposition der einzelnen Familienmitglieder zu Ängstlichkeit hat. So ist mein Cousin Steve ein Inbegriff der Lebensfreude, und ich könnte das Gleiche über andere Holocaust-Überlebende und Kinder von Holocaust-Überlebenden sagen, die ich kennengelernt habe.
Dabei sollte festgehalten werden, dass Angst unter evolutionärem Gesichtspunkt nicht unbedingt eine unerwünschte Eigenschaft ist. Angst um das Überleben hilft, Gefahren aus dem Weg zu gehen, und fördert Entdeckungen, Erfindungen und technische Entwicklungen. Die Antwort auf die Frage, warum die Juden als Unternehmer, in akademischen Berufen und den Naturwissenschaften angeblich so überdurchschnittlich erfolgreich sind, lautet wahrscheinlich nicht, dass sie einen höheren IQ besitzen, woran ich zweifle, sondern hängt damit zusammen, dass sie in den immer wiederkehrenden Wellen des Antisemitismus einen überdurchschnittlich hohen Grad von Ängstlichkeit entwickelt haben.
Jede menschliche Eigenschaft kommt in einem Kontinuum von wenig bis stark ausgeprägt vor. Ein Grad von Ängstlichkeit irgendwo in der Mitte des Spektrums, der helfen kann, einen Menschen vor Gefahren zu warnen und eine geeignete Reaktion auszulösen, ist sicher nützlich. Ich glaube, das galt für die leicht überdurchschnittliche Ängstlichkeit meiner Mutter, die sie mit zwei Päckchen Zigaretten proTag bekämpfte. Aber in den beiden extremen Ausprägungen verliert die Eigenschaft ihren Wert für das Überleben: Am einen Ende wird illusionäre Vertrauensseligkeit daraus und am anderen lähmende Panik, und beides ist nicht hilfreich, wenn es ums Entscheiden und Handeln geht.
Schon als wir noch Kinder waren, gab es einen deutlichen Unterschied zwischen meinem älteren Bruder und mir. Ich erinnere mich gut an eine Situation, als Jean-Claude sechs war und ich viereinhalb. Wir fuhren in die Alpen zum Skilaufen, das taten wir regelmäßig. Wir reisten mit dem Zug und saßen im Wartesaal, die ganze Familie mit Ausnahme meines Vaters, der sich um das Gepäck kümmerte.
Jean-Claude fragte: »Maman, darf ich meine Fahrkarte nehmen?«
Und ich piepste hinterher: »Darf ich meine auch nehmen?«
Meine Mutter zögerte einen Augenblick und schaute, wie ich fand, mich ein wenig schärfer an als Jean-Claude. Mit Bedacht gab sie uns unsere Fahrkarten, ein kleines Rechteck aus Pappe für jeden. »Verlier sie nicht«, sagte sie zu mir.
Jean-Claude betrachtete glücklich seine Fahrkarte und steckte
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