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Das Ende meiner Sucht

Das Ende meiner Sucht

Titel: Das Ende meiner Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Ameisen
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vorbereiten würde. Sie hatten miterlebt, wie demokratische Länder Diktatoren wählten oder von Diktatoren erobert wurden, und sie hatten gesehen, wie es den Menschen im Krieg ergeht. »Nie wieder«, das vorherrschende Gefühl der unmittelbaren Nachkriegszeit, war für sie eine Hoffnung, nicht eine Erwartung. In einer solchen Welt, so die Überzeugung meiner Eltern, musste ein Jude jederzeit zur Emigration bereit sein. Ein Jura-Abschluss wurde im Allgemeinennur im jeweiligen Heimatland anerkannt, ein Abschluss in Architektur oder Ingenieurwesen bot da schon mehr Möglichkeiten. Am besten aber war ein Medizinexamen, das war wie ein Pass für einen Juden, eine Qualifikation, die er immer bei sich tragen konnte und die auf der ganzen Welt anerkannt werden würde.
    Ich sträubte mich.
    Den ganzen Sommer über spielte ich Klavier in einem nahe gelegenen Restaurant, La Closerie des Lilas. Das Lokal war seit Jahrzehnten ein Treffpunkt der Szene von Montparnasse; Künstler und Literaten von Pablo Picasso und Gertrude Stein über Ernst Hemingway bis Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir hatten dort verkehrt. Für mich war es der Himmel auf Erden, dass ich für ein paar Francs abends Klavier spielen konnte. Ich mischte klassische Stücke mit Pop und Schlagern, wie mir gerade der Sinn stand oder wie die Gäste es wünschten. Einmal sagte mir ein Kellner, der surrealistische Dichter Louis Aragon wünsche sich den ersten Satz von Beethovens Mondscheinsonate, und ich war glücklich, seinen Wunsch zu erfüllen.
    In dem Sommer wurde ich sechzehn, sah aber älter aus. Von Zeit zu Zeit ließen die Gäste in dem Restaurant mir Drinks ans Klavier bringen. Ich lehnte immer ab, und im Laufe der Zeit sagten schon die Kellner an meiner Stelle »Danke, nein«. Doch bald nach meinem Geburtstag im Juni wollte ich einmal ausprobieren, wie Alkohol eigentlich schmeckte, und akzeptierte einen Drink, den ein Gast mir spendiert hatte. Ich verspürte keinerlei Wirkung und dachte: Ist das alles? Viele Jahre vergingen, bis ich das nächste Mal Alkohol probierte.
    Ich wäre glücklich gewesen, wenn ich unendlich weiter in Cafés und Restaurants hätte Klavier spielen können. Für meine Eltern kam das nicht infrage. Sie stimmten aber einer Ausbildung zum Konzertpianisten zu, sofern eine vertrauenswürdige Autorität bestätigte, dass ich das Talent dazu hatte, und ich diszipliniert übte.
    Meine Klavierlehrerin gehörte zu den besten in Paris, und andere hervorragende Musiker hatten mein Spiel gelobt. Aber ich hatte noch nicht den Test absolviert, für jemanden zu spielen, der dieKonzertbühne und ihre Anforderungen wirklich kannte. Mein unbedingter Wunsch, Musiker werden, verlieh mir wieder die Chuzpe, und ich entwickelte die Idee, mich an den großen Virtuosen Arthur Rubinstein zu wenden und ihn zu bitten, dass ich ihm vorspielen dürfe.
    Wieder schrieb meine Mutter einen Brief. Sicher bekam er viele solche Briefe, trotzdem fand ich seine Antwort ganz selbstverständlich: »Rufen Sie mich an unter Kléber 4183. Ich fliege heute Abend zu einem Konzert nach Rom.« Wer konnte schon meiner Mutter widerstehen, selbst wenn er in Form eines Briefes mit ihr zu tun hatte?
    Ich suchte ihn an einem strahlenden Morgen im September auf, in seiner Villa Square de l’Avenue Foch Nr. 22. Ich kam pünktlich um 10 Uhr 30 und konnte mich vor Nervosität kaum auf den Beinen halten. Ein Butler führte mich in ein Zimmer mit vielen impressionistischen Gemälden an den Wänden und einem glänzenden Steinway-Flügel. Eine halbe Stunde später erschien Rubinstein in schwarzem Morgenmantel mit roten Paspeln – ich hatte halb erwartet, dass er Konzertkleidung tragen würde – und sagte: »Unterhalten wir uns.«
    Ich konnte kaum sprechen, ich war gelähmt vor Schüchternheit. Er sagte freundlich: »Gehen Sie ans Klavier.« Mit zitternden Fingern setzte ich mich an den Steinway.
    »Was möchten Sie mir vorspielen?«, fragte der Maestro.
    Mein Traum war, Chopin für ihn zu spielen, aber ich dachte, wenn ich Chopin spielte, würde er denken, ich sei technisch nicht gut genug, um Liszt zu spielen. So begann ich widerstrebend mit einer Rhapsodie von Liszt, Nr. 11 in a-Moll. Rubinstein unterbrach mich nach ein paar Takten. »Schauen Sie, erstens sollten Sie das ein wenig anders spielen. Aber eigentlich kann ich Ihnen zu Liszt nichts sagen. Könnten Sie Chopin spielen?«
    Das musste er mir nicht zweimal sagen. Ich spielte von Chopin das Nocturne Nr. 16 in Es-Dur. Meine Finger

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