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Das Ende meiner Sucht

Das Ende meiner Sucht

Titel: Das Ende meiner Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Ameisen
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glitten von allein über die Tasten, ich hatte sie nicht unter Kontrolle. Sie spielten immer weiter, und ich fühlte mich entsetzlich. Am Ende des Stücks sagte er: »Sie sind ein sehr mutiger Mann.«
    Ich dachte: O Gott, was soll ich nur machen? Am liebsten wäre ich im Boden versunken.
    Er fuhr fort: »Dieses Stück ist musikalisch so schwierig, dass ich es dreißig Jahre nicht gespielt habe. Horowitz hat es gespielt. Ignaz Friedman hat es gespielt. Und weil Friedman es so gut gespielt hat, habe ich beschlossen, es niemals zu spielen.«
    Für mich klang es, als wolle er sagen: »Dort ist die Tür.« Tatsächlich aber sagte er: »Sie haben das mit so viel Leidenschaft gespielt. Es hat mich daran erinnert, wie ich als Fünfzehnjähriger für Paderewski gespielt habe. Können Sie noch ein Nocturne spielen?«
    Ich spielte das Nocturne Nr. 15 in f-Moll. Und dann setzte er sich neben mich und spielte Akkorde. Ich konnte es kaum fassen: Seine Finger und meine Finger auf denselben Tasten. Das und die Tatsache, dass er wie ich war oder eher ich wie er. Ich merkte, dass er improvisierte, aber sehr gut. Und er merkte, dass ich ebenfalls improvisierte, er war nicht dumm.
    Er sagte zu mir: »Sie machen das, was ich gemacht habe, als ich jung war. Aber heute will das Publikum jede Note. Wie ich bei den Europäern geblufft habe, hat in den Vereinigten Staaten nicht funktioniert. Ich musste sehr hart arbeiten, um dort anerkannt zu werden.«
    Er bat mich, noch mehr zu spielen, und ich spielte ein paar eigene Kompositionen. Er sagte: »Mir gefällt sehr, was Sie komponiert haben. Offenbar haben Sie sich von Wagner und Rachmaninoff inspirieren lassen.« Ich verehrte Rachmaninoff und nahm das als das größte Lob, das ich hätte bekommen können. Von Wagner kannte ich nur das Vorspiel zu Tristan und Isolde, aber das wagte ich nicht zu sagen.
    Ich erzählte ihm, ich wolle Medizin studieren, und sei unsicher, ob beides gleichzeitig möglich sei, Medizin und Klavier.
    Er erwiderte: »Nein, das war möglich zu Zeiten von Pianisten wie Moriz Rosenthal« – ein Schüler von Liszt, der in den 1880er Jahren an der Universität Wien Philosophie studiert hatte – »aber heute müssen Sie wie besessen üben.«
    Und er fuhr fort: »Sie sind ein großartiger Pianist, einer der besten. Sie erinnern mich nicht nur an mich selbst, sondern an Samson François. Er hat mir ebenfalls auf diesem Flügel vorgespielt.«
    Der Vergleich verschlug mir den Atem. Samson François verehrte ich in der jüngeren Generation von Pianisten am meisten.
    »Sie müssen Ihre Technik vervollkommnen. Sie müssen Czerny üben, Scarlatti, Bach und Mozart. Sie sollten die Medizin aufgeben und gleich damit anfangen.«
    Seine Worte »Sie müssen Ihre Technik vervollkommnen« waren ein Schlag für mich. Das Lob ging zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus, aber die Kritik hallte unaufhörlich in meinem Kopf wider. Später sagte ich mir: Wenn es so ist, werde ich nicht perfekt werden, weil es zu viel Arbeit ist. Ich wollte nicht Tonleitern üben. Und meine Schwierigkeiten damit, Partituren zu lesen, würden ein furchtbares, unüberwindliches Hindernis auf dem Konservatorium und in der Zusammenarbeit mit professionellen Musikern sein.
    Die Würfel waren gefallen. Ich würde Arzt werden.
    Ein paar Wochen später, im Oktober 1969, begann ich an einem Lehrkrankenhaus der Universität Paris, dem Hôpital Cochin, das 15 Minuten zu Fuß von unserer Wohnung entfernt lag, Medizin zu studieren. Ich war erst sechzehn, zwei bis drei Jahre jünger als alle anderen in meinem Jahrgang. Meine Außenseiterposition war mir schmerzlich bewusst. Aber dann fesselte mich das Fach Chemie, hauptsächlich dank eines brillanten Lehrers namens Jean Durup, und ich ließ mich voll und ganz auf das Studium ein. Ich erkannte die ästhetische Schönheit chemischer Verbindungen und der Art, wie Atome und Moleküle sich zu unterschiedlichen Substanzen zusammenfügen. Meine Mutter hatte mich auf ein Feld gedrängt, das ich schon bald liebte.
    Im Jahr darauf folgte mir mein älterer Bruder Jean-Claude an die medizinische Fakultät. (Eva studierte ebenfalls Medizin, als sie mit der Schule fertig war. Jean-Claude wurde ein renommierter Immunologeund Eva eine sehr gute Chirurgin.) Von da an lernten Jean-Claude und ich oft gemeinsam für Prüfungen, und das ganze Studium hindurch arbeiteten wir zusammen, es war die engste und anregendste intellektuelle Partnerschaft, die ich je mit einem anderen Menschen

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