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Das Ende meiner Sucht

Das Ende meiner Sucht

Titel: Das Ende meiner Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Ameisen
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sie in die Manteltasche, aber ich konnte meine nicht aus der Hand lassen. Ich drehte sie in den Fingern hin und her, hielt sie erst in der einen Hand und dann in der anderen, mit wachsender Sorge, was ich damit machen sollte. Aus der Manteltasche würde sie womöglich herausfallen. Meiner Mutter konnte ich sie nicht zurückgeben, wenn Jean-Claude seine Fahrkarte behielt, und ich fragte mich, wie er so ruhig sein konnte.
    Meine Mutter, auf dem Arm die zweijährige Eva, klopfte nervös mit dem Fuß auf den Boden. »Warum braucht euer Vater so lange?« Sie klang gereizt. »Wir werden noch den Zug verpassen.«
    Meine Mutter setzte Eva ab, öffnete ihre Tasche und suchte nach einer Zigarette. Genau in dem Augenblick schlenderte mein Vater herbei, ruhig, lächelnd wie immer, wenn er uns erblickte, und meine Mutter entspannte sich sichtlich. Sie ließ die Zigaretten zurück in dieTasche gleiten. Wir gingen auf den Bahnsteig und stiegen einiges vor der Abfahrtszeit in den Zug. Ich war auch etwas ruhiger, als ich meinen Vater sah, hielt aber meine Fahrkarte immer noch fest umklammert, bis der Schaffner kam, die Fahrkarten lochte und alle meiner Mutter zurückgab. Erst da konnte ich aufatmen und mich ganz dem Vergnügen unseres Ferienabenteuers überlassen.
    Ich hatte nicht beabsichtigt, Arzt zu werden. Ich liebte das Klavier und träumte von einer Karriere als Musiker. Meine Musiklehrer sagten meinen Eltern, ich hätte ausreichend Talent, aber ich solle nicht ohne baccalauréat, das französische Abitur, von der Schule abgehen. Im letzten Jahr des Gymnasiums wird hauptsächlich für diese Abschlussprüfung gepaukt, die zwei bis drei ganze Tage dauert und je nach Spezialisierung des Schülers in drei Fachrichtungen abgelegt wird: Naturwissenschaften und Mathematik, Wirtschaft und Sozialwissenschaften, Literatur und Philosophie.
    In der Mitte meines zweiten Jahres in der Oberstufe sagte ich meiner Mutter, ich wolle vorzeitig das baccalauréat in Literatur und Philosophie ablegen. Meine Mutter und ich gingen zum Direktor meiner Schule, Georges Hacquard. Ihm gefiel mein Klavierspiel, und er sagte zu meiner Mutter: »Wenn er wirklich Pianist werden will, muss er es unbedingt versuchen. Er ist der beste Musiker, den wir auf unserer Schule jemals hatten.« So schrieb er an das Erziehungsministerium, ich sei so weit, die Prüfung abzulegen, und bat um die Erlaubnis dazu.
    Mehrere Wochen vergingen, dann schrieb ein Ministerialbeamter im üblichen bürokratischen Stil zurück und lehnte unser Gesuch ab. Ich akzeptierte das nicht als Antwort. Ich hatte die Chance vor Augen, der Schule für immer zu entrinnen, und diese Chance wollte ich nicht verstreichen lassen. Ich rief im Erziehungsministerium an und bat um einen Termin beim Erziehungsminister Edgar Faure. Rückblickend wundere ich mich noch immer über meine Chuzpe, normalerweise verhielt ich mich nicht so. Und Edgar Faure war eine bedeutendePersönlichkeit. In den 1950er Jahren hatte er zweimal das Amt des französischen Premierministers bekleidet und darüber hinaus viele andere hohe Regierungsämter. Aber man wusste auch, dass er unter einem Pseudonym Kriminalromane schrieb, und meine Eltern sagten, er gelte als offen und tolerant. Darum dachte ich, ich könnte ihn überzeugen, wenn es mir gelang, bis zu ihm vorzudringen.
    Ich kam bis zu einem Staatssekretär. Der teilte mir mit: »Wir haben gehört, dass Sie brillant sind, aber wir können keine Ausnahmen machen.«
    Ich bat meine Mutter, an Faure zu schreiben; in ihre Überzeugungskraft hatte ich mehr Vertrauen als in meine. Ich schlug Faures Privatadresse im Who’s Who nach und ging mit dem Brief meiner Mutter persönlich dorthin. Ich klingelte, weil ich dachte, Faure werde vielleicht selbst zur Tür kommen, doch ein kleiner rundlicher Butler öffnete und nahm den Brief entgegen.
    Sechs Tage vor dem baccalauréat erhielten wir die Nachricht, ich könne die Prüfung ablegen. Ich bestand mit ordentlichen Noten. Nach Angabe des Erziehungsministeriums war es das erste und einzige Mal, dass ein Schüler das baccalauréat abgelegt hatte, ohne die letzten beiden Schuljahre zu absolvieren.
    Das baccalauréat war nicht die erhoffte Eintrittskarte in eine Karriere als Musiker. Meinen Eltern gefiel es nicht, dass ich mit sechzehn nur am Klavier saß, ohne mir Gedanken über meine Zukunft zu machen. Nach ihrem Wunsch sollte ich ein Studium beginnen, das mich auf einen guten, lohnenden Berufsweg in Frankreich oder einem anderen Land

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