Das Ende meiner Sucht
hatte. Aber es bedeutete auch, dass in meiner Vorstellung die Verantwortung für Jean-Claudes Vorankommen auf mir lastete genau wie die Verantwortung für mein eigenes. Weil ich die Prüfungen vor ihm ablegte, musste ich dafür sorgen, dass er wusste, was ihn erwartete. Meine Angst war so groß, dass ich nicht schlafen konnte, und bald war ich durch die Schlaflosigkeit völlig erschöpft.
In dem verzweifelten Wunsch, nachts mehr Ruhe zu finden und tagsüber weniger Angst zu verspüren, suchte ich unseren Hausarzt Dr. Gilbert Meshaka auf. Er hörte mir aufmerksam zu und verschrieb mir eine Zweiwochendosis Tranxene, einen Tranquilizer aus der Gruppe der sogenannten Benzodiazepine oder Benzos, zu der auch Ativan gehört, Valium und Xanax. Das Medikament half mir, den Stress der Prüfungen zu überstehen, und danach verschrieb mir Dr. Meshaka Tranxene oder ein anderes Benzodiazepin immer mal wieder, wenn meine Angstgefühle unerträglich wurden.
1977 schloss ich den ersten Teil meines Medizinstudiums ab. Ich absolvierte die Prüfung für die Zulassung zum praktischen Jahr und arbeitete in der Neurologie, der Inneren Medizin und der Kardiologie. In französischen Krankenhäusern stand damals in der salle de garde, dem Bereitschaftszimmer, wo die jungen Ärzte, die Bereitschaftsdienst hatten, aßen und ein Nickerchen machten, immer Wein auf dem Tisch. Eines Tages beschloss ich, zum Mittagessen etwas zu trinken. Es verdarb mir den Rest meines Arbeitstags, und ich folgerte, dass Alkohol einfach nichts für mich war.
Nach dem praktischen Jahr wurde ich Assistenzarzt in der Nephrologie am Krankenhaus Saint-Cloud, einem westlichen Vorort von Paris. Saint-Cloud hatte eines der renommiertesten Programme zur Behandlung von Alkoholismus in Frankreich, und manchmal nahm ich Patienten auf, die zum Entzug kamen. Sie sahen alleähnlich aus, blass und eingefallen, genau wie später meine Mitpatienten in den Entgiftungsstationen und Therapiezentren in den Vereinigten Staaten, und genau wie später ich, wenn ich in den Spiegel schaute, nachdem ich Alkoholiker geworden war.
Doch damals erstaunte mich jungen Arzt etwas anderes: dass Voraussetzung für die Aufnahme eine Mindestzeit der Alkoholabstinenz war. Mir schien, als würden nur die Hilfe bekommen, die sie gerade nicht am dringendsten brauchten. Ich fragte mich, was mit den Alkoholikern wurde, die noch schlechter dran waren. Aber die Regel, dass Abstinenz die Voraussetzung für die Behandlung war, stellte ich nicht infrage und auch nicht die implizite Annahme, dass es sich bei Alkoholismus im Wesentlichen um ein Problem mangelnder Willensstärke handelte.
Nach langen Diskussionen entschied ich, dass die Kardiologie mein Spezialgebiet sein sollte. Frankreich hat in kardiologischer Forschung und Ausbildung eine lange Tradition, und ich trat eine kardiologische Assistenzarztstelle in Paris an. Aber ich fragte mich, wie es wohl in Amerika mit der Kardiologie aussehen mochte. Seit ich im Alter von fünfzehn Jahren zum ersten Mal die Freiheitsstatue erblickt hatte, hegte ich den Wunschtraum, mindestens ein Jahr in Amerika zu verbringen, am liebsten in New York, der Stadt von Woody Allen, Leonard Bernstein und der Carnegie Hall.
Im Oktober 1983 begann ich in Amerika als Forschungsassistent in der kardiologischen Abteilung der medizinischen Fakultät des New York Hospital-Cornell University Medical College, wo ich unter und mit den Doktoren John Laragh, Jeffrey Borer und Paul Kligfield arbeitete. Laragh war der Leiter der kardiologischen Abteilung und kurz zuvor auf dem Titelblatt des Magazins Time gestanden, weil er wesentlich dazu beigetragen hatte, einige der bei Bluthochdruck wirksamen Mechanismen aufzuklären. Diese Titelgeschichte machte das Schlagwort vom »stillen Killer« Bluthochdruck populär. Jeff Borer und Paul Kligfield waren ebenfalls höchst begabt und produktiv,Jeff leitete praktisch die Abteilung für kardiovaskuläre Pathophysiologie.
In dem Forschungsprojekt von Jeff Borer und Paul Kligfield, zu dem ich stieß, ging es darum, die Zuverlässigkeit von Herzbelastungstests zu verbessern. Bei den üblichen Belastungs-EKGs kamen häufig falsch normale Werte heraus, was bedeutete, dass ernsthafte Herzerkrankungen übersehen wurden. Im Laufe der Zeit entwickelten wir eine neue Form des Tests, die die individuelle Herzfrequenz des Probanden berücksichtigte, und wir veröffentlichten etliche Aufsätze über ST-Segment-Senkungen in Abhängigkeit von der Herzfrequenz. Diese
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