Das Ende meiner Sucht
niederschmetternd. Würde zu sehen sein, welchen Preis meine Trinkerei gefordert hatte?
Wir gingen ins Wohnzimmer, ich schaltete Fernseher und Videorekorder an, während sie sich auf dem Sofa eine Zigarette anzündete. Als ich mich neben sie setzte, hob sie den Kopf und warf mir einen Blick voll liebender Besorgnis zu, der mich zugleich beruhigte und mit Schuldgefühlen erfüllte, dass ich mit dem Trinken so viel Kummer in ihr Leben gebracht hatte. Ich drückte die Starttaste auf der Fernbedienung, und ihr Blick wanderte zum Bildschirm.
Die Veranstaltung begann vor dem Hotel Lutetia auf dem Boulevard Raspail, einem Jugendstiljuwel mit hell erleuchteter Fassade, in einer kalten, klaren Nacht. Ich hatte dem Videofilmer ein Band mit Musik von mir gegeben, und die Eröffnung war unterlegt mit einemStück, das ich im letzten Frühjahr in der Klinik in Vermont geschrieben hatte, »My Gift« (Mein Geschenk).
Mit einem schnellen Schnitt (der Videofilmer hatte großartige Arbeit geleistet) wechselte die Szene in die herrliche Lobby. Es folgte eine Montage, die mich bei der Begrüßung verschiedener Gäste zeigte. Ich hatte meiner Mutter bei den Vorbereitungen nicht geholfen, aber es wenigstens geschafft, so rechtzeitig da zu sein, dass ich die Gäste beim Eintreffen begrüßen konnte. Zur moralischen Unterstützung begleitete mich Danielle, meine neue Freundin, die dazu noch ihren kleinen Hund mitgebracht hatte, meinen besonderen Liebling. Ich hatte seit 24 Stunden nichts getrunken, Valium gegen akute Entzugssymptome geschluckt und drei doppelte Espressi getrunken.
Mein Erscheinungsbild auf dem Video erleichterte mich sehr. Da stand ich, gut gekleidet in einem eleganten Anzug, die Augen leuchtend und wach, ein fröhliches Lachen auf den Lippen, ohne das geringste Anzeichen für den Aufruhr in meinem Inneren.
Ich beobachtete, wie der 92-jährige Jean Bernard, ein Pionier der Onkologie und Hämatologie – und der erste Kinderarzt unserer Familie –, trotz seines hohen Alters federnd auf mich zukam. Es war bewegend, ihn lächeln zu sehen wie ein stolzer Onkel. Aber ich fühlte mich auch leicht unbehaglich (genau wie an jenem Abend), weil ich solche Freundlichkeit eindeutig nicht verdiente; sie konnte nur auf seine lange Freundschaft mit unserer Familie zurückzuführen sein.
Dann erschienen Philippe Coumel, damals Leiter der Kardiologie am Hôpital Lariboisière; Jean Dausset, der 1980 für seine immunologischen Forschungen den Nobelpreis in Medizin bekommen hatte, mit seiner Frau Rosita, enge Freunde seit über zehn Jahren; Bruno Durieux, ehemaliger Gesundheitsminister unter Mitterrand, und Raymond Barre, damals Bürgermeister von Lyon, der zweitgrößten Stadt Frankreichs.
Das Mikrofon hatte Raymond Barres »Bonsoir, cher ami« eingefangen, als er mich mit einem breiten Lächeln und Küssen links und rechts begrüßte. Wieder empfand ich ein Gefühl der Fremdheit, alsich die Szene betrachtete, und neben meiner Mutter auf dem Sofa war der Schmerz noch stärker. Ich schaute Raymond Barre auf dem Bildschirm an und dachte: Das ist nicht das einstudierte Lächeln eines Politikers. Das ist echte Zuneigung. Wie habe ich das verdient?
Ich schaute mich an und dachte: Es ist unglaublich. Ich wirke völlig normal. Meine Stimme ist fest. Sie lassen sich alle zum Narren halten und sehen nicht, was für ein Wrack ich bin.
Ich blickte zu meiner Mutter und registrierte ihre Freude. Sie beugte sich nach vorn zum Fernseher, als wollte sie in die Szene eintauchen.
Ich schaute wieder auf den Bildschirm. Mittlerweile hatte sich das Geschehen in den Boucicaut-Saal verlagert, benannt nach einem Marschall Frankreichs, einem der größten Ritter der Renaissance. Zehn Jahre zuvor hatte mein Vater seinen Orden der Ehrenlegion im selben Raum aus den Händen von Raymond Barre entgegengenommen.
Die Kluft zwischen mir und meinem Videobild vertiefte sich noch weiter, als Raymond Barre auf dem Bildschirm den versammelten Gästen mitteilte, dass er mit großem Vergnügen zusammen mit dem Nobelpreisträger Jean Dausset mein Dossier für die Verleihung des Ordens der Ehrenlegion zusammengestellt habe und sich besonders freue, dass er die Auszeichnung persönlich überreichen könne. Sprach er tatsächlich von mir, als er die Leistungen aufzählte, deretwegen die Auszeichnung »hochverdient« sei? Zu jedem Sieg, den Barre nannte, fiel mir eine alkoholbedingte Niederlage ein, die mich in eine Notaufnahme, auf eine Entgiftungsstation, eine
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