Das Ende meiner Sucht
musste, die aber nach meiner festen Überzeugung genau zehn Minuten nach meinem Tod durch Alkohol entdeckt werden würde. Stundenlang wanderte ich in den Bergen, in möglichst schnellem Tempo, um Nervosität abzubauen und die Muskelkraft wieder aufzubauen, die ich während meiner Rauschzustände verloren hatte. Außerdem half mir das, abstinent zu bleiben.
Eine Zeit lang kaufte ich meine Lebensmittel in einem kleinen schweizerischen Laden. Die Auswahl an Wodkaflaschen im Regal verlockte mich Tag für Tag, wie die Sirenengesänge Odysseus betört hatten. Im Gegensatz zu Odysseus hatte ich keine Gefährten, die mich mit Bienenwachs in den Ohren an den Mast fesselten und auf diese Weise hinderten, den Sirenen zu folgen. Ich gab der Verführung schließlich nach.
Ein paar Tage später lernte ich ein Touristenpaar kennen, wir redeten bis spät in die Nacht. Ich trank, und ich trank weiter, nachdem ich mich von meinen neuen Freunden verabschiedet hatte. Dann erinnere ich mich erst wieder, dass ich in der Notaufnahme eines kleinen Krankenhauses etwa 15 Kilometer von meiner Unterkunft entfernt erwachte. Man hatte mich betrunken und mit gebrochener Nase im Straßengraben gefunden.
Zurück in Paris dauerte es einige Tage, bis ich wieder mit demTrinken aufhören konnte. Dann ging ich zu Dr. Jean-Paul Descombey, dem ehemaligen Leiter der Psychiatrie im Hôpital Sainte-Anne, einem der renommiertesten französischen Spezialisten für Alkoholismus, den ich vor einigen Monaten zum ersten Mal aufgesucht hatte. »Sollte ich in eine Entzugsklinik gehen?«, fragte ich.
Descombey meinte: »Das scheint nicht die richtige Lösung für Sie zu sein, oder?«
»Nein, aber was kann ich sonst tun? Manchmal denke ich, ich sollte am besten ganz in einer Entzugsklinik leben.«
»Das ist nicht machbar. Aber es ist erstaunlich, wie Sie sich von Ihren Rauschzuständen erholen. Innerhalb von ein bis zwei Tagen sind Sie auf den Beinen, und ein paar Tage später versinken Sie wieder im Alkohol. Die Abstände werden kürzer. Ich fürchte, so haben Sie nicht mehr lange zu leben.«
In meiner Zeit als Kardiologe hatte ich oft die Erfahrung gemacht, dass die Ehefrau oder Freundin eines männlichen Patienten eine für die Erstellung der Diagnose hilfreiche Informationsquelle war. Die Frauen registrierten Verhaltensweisen und erinnerten sich an Vorfälle, die die Männer entweder verdrängt hatten oder aus Verlegenheit nicht berichteten.
Solange ich Alkoholiker war, erzählte ich allen Ärzten und Therapeuten, mein Grundproblem sei die Angst, die sich in einer chronischen Muskelverkrampfung ausdrückte und, wenn sie sich bis zur Panik steigerte, ein unwiderstehliches Bedürfnis zu trinken weckte, um Erleichterung zu finden. Keiner der Ärzte, die mich wegen der Sucht behandelten, nahm das ernst.
Aber meine alte Freundin Joan erinnerte sich gut daran, vielleicht weil sie mich öfter als jeder Arzt darüber sprechen gehört hatte. Eines Tages im November 2000 fiel ihr in der U-Bahn eine liegen gelassene Ausgabe der New York Times in die Hände. Darin las sie einen Bericht über eine Forscherin an der University of Pennsylvania, die die Wirkungen eines muskelrelaxierenden Medikaments namens Baclofenauf das Verlangen von Kokainsüchtigen nach ihrer Droge untersuchte. Joan riss den Artikel heraus und schickte ihn mir nach Paris.
Ich war in einem schweren Rausch versunken, als der Artikel eintraf. Ich starrte ihn an und schob ihn beiseite. Ein paar Tage später erinnerte ich mich vage daran und suchte ihn, konnte ihn aber nicht finden. Ich vermute, ich habe Schnaps darauf verschüttet, und die Putzfrau hat ihn weggeworfen.
Mein Leben ging weiter wie zuvor. Das Trinken führte dazu, dass ich Krankenhäuser nicht ganz vermeiden konnte, aber wann immer möglich, entgiftete ich mich selbst, wie ich es schon in New York getan hatte. Doch im Dezember suchte ich zur Entgiftung ein Krankenhaus auf, in dem ich einen Teil meines Studiums absolviert hatte und wo eine Freundin aus den alten Tagen, Élodie, Oberschwester war. Und im Juni 2001 stürzte ich erneut schwer.
Ich war wohl auf der Straße oder zu Hause hingefallen, ich weiß es nicht, denn es passierte bei einem Blackout. Wenn es auf der Straße geschehen war, hatte ich es immerhin nach Hause und ins Bett geschafft. Trotz des Alkohols im Blut wachte ich mit Schmerzen in der linken Brusthälfte auf. Die Schmerzen wurden schlimmer und dann extrem stark, aber ich dachte, sie würden vergehen. Mittlerweile war
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