Das Ende meiner Sucht
gut gemeint, und ich möchte den Schmerz nicht kleinreden, den Abhängigkeit einer Familie zufügt. Aber zu sagen: »Wenn du mich wirklich liebst, wirst du dich ändern«, ist emotionale Erpressung und verkennt das Dilemma des Abhängigen. Es impliziert, dass der Gebrauch einer bestimmten Substanz der Kontrolle des Suchtkranken unterliegt, dass er sich dafür entscheiden kann, nicht mehr »selbstsüchtig« und »willensschwach« zu sein, und das stimmt nicht. Alkoholiker und andere Suchtkranke leben in einem biologischen Gefängnis, aus dem es keinen Ausweg gibt. Wie Pierre Fouquet gesagt hat, der Begründer der modernen französischen Forschung zur von ihm so genannten »Alkohologie«, hat der abhängige Patient »die Freiheit verloren, abstinent zu bleiben«.
Emotionale Erpressung und Schocktherapie könnten akzeptabelsein, wenn sie hilfreich wären. Tatsächlich aber sind solche Worte Tritte gegen jemanden, der am Boden liegt, als könnte man mit Tritten den Betreffenden bewegen, dass er aufsteht und geht. Und wenn er oder sie es nicht kann?
Als Kind und Heranwachsender wollte ich immer meinen Eltern gefallen. Sie hatten so viel gelitten, sie verdienten es, glücklich zu sein. Sie mussten glücklich sein. Ich konnte den Gedanken, sie zu verletzen, nicht ertragen. Wenn wir Klassenkameraden auf der Straße trafen, fühlte ich mich schuldig, zu zeigen, dass ich mich über die Begegnung freute – als wäre die Freude, die Aufregung, ein Betrug an meinen Eltern, besonders an meiner Mutter.
Als Erwachsener ging ich damit sogar noch weiter. Meine Mutter redete mir zu, zu heiraten und Kinder zu haben, aber auch das fühlte sich wie Betrug an. Mit einem Zitat des Schriftstellers Romain Gary könnte ich sagten, im Vergleich zu meiner Mutter seien alle Frauen in meinem Leben buffet froid gewesen, ein »kaltes Büfett«. Ich weiß, das ist nicht fair gegenüber meinen Freundinnen, die bemerkenswerte Persönlichkeiten waren, klug und großzügig, aber ich vermute, alle Söhne mit charismatischen Müttern können es nachvollziehen.
Und was meinen Vater anbetrifft, meinen strahlenden, gut aussehenden Vater: Egal, wie erfolgreich ich werden würde, ich konnte nie hoffen, ihn zu erreichen. Er war ein vollendeter Musiker und ein hochkultivierter Intellektueller, und was Erfolg in der Welt anbetrifft, so hatte er seine Fähigkeiten in Krieg und Frieden bewiesen durch seinen ausgezeichneten Dienst in der französischen Armee und durch bahnbrechende Leistungen für die französische Wirtschaft und den Außenhandel nicht nur als Geschäftsführer des Unternehmens Helena Rubinstein, sondern später, einige Jahre nach seinem Rückzug dort, in gleicher Funktion in dem großen Modehaus Balenciaga, dem er nach schwierigen Zeiten wieder auf die Beine half. Und als er 1991 starb, pries ihn überdies ein vielstimmiger Chor als »tzaddik«, als einen Gerechten.Gefangen in einem Netz aus unauflöslicher Angst und den daraus resultierenden und dadurch verstärkten Fehlwahrnehmungen, kämpfte ich sehr, meiner Mutter nicht noch mehr Schmerz zuzufügen. Und ich scheiterte. In meinen Rauschzuständen war ich selbstgerecht und paranoid. Ich wütete mit Worten gegen meine Mutter – und meinen Bruder, meine Schwester und gute Freunde. Wenn meine Mutter mich drängte, nicht zu trinken, sagte ich Dinge wie: »Du bist intolerant. Du bist wie die Nazis.«
In solchen Augenblicken sprach sie mit mir immer voller Nachsicht, Zärtlichkeit und leidenschaftlicher Sorge um mein Wohlergehen. Aber sie kämpfte, und ihre gelegentlichen Ausbrüche von Wut und Ärger waren Teil des Tributs, den die Abhängigkeit von jedem fordert, der einen Abhängigen liebt.
Im Laufe des Juni bat sie mich, einen Psychiater aufzusuchen, den sie kannte.
Ich hatte keine Lust dazu. »Der Kerl ist nicht auf die Behandlung von Alkoholismus und anderen Abhängigkeiten spezialisiert. Ich war bei den besten Experten und in den besten Suchtkliniken. Es gibt keine wirksame Behandlung von Alkoholismus. Warum soll ich zu einem Psychiater gehen, nur damit er mir zuredet, mit dem Trinken aufzuhören? Das machst du schon ausgiebig.«
»Vielleicht kann er dir helfen.«
Wir führten etliche solche Diskussionen, und schließlich gab ich nach.
Sie vereinbarte einen Termin für mich und begleitete mich. Ich war halb betrunken, als wir ankamen, aber wir mussten lange warten, und ich wurde ungeduldig. Ich sagte zu meiner Mutter: »Mir reicht’s« und ging. Sie lief mit einer Praxishelferin
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