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Das Ende meiner Sucht

Das Ende meiner Sucht

Titel: Das Ende meiner Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Ameisen
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mein Baclofen-Protokoll unterbrechen würde.
    Am Samstag, dem 14. Februar, am 38. Tag meines Baclofen-Protokolls, war ich bei 270 Milligramm täglich, das Neunfache der Dosis, die Giovanni Addolorato bei seinen Versuchen mit Baclofen gegen Alkohol-Craving verwendete. Rebecca wollte, dass ich sie am Nachmittag zum Tee ins Hotel Le Lodge Park begleitete, das eleganteste Haus in Megève. Das Hotel besitzt eine große Bar und eine weitläufige Lounge, beide gleichermaßen bekannt dafür, dass man sehr gut Leute beobachten und atemberaubende Ausblicke auf die Landschaft genießen kann. Ich fürchtete, dass ich dort vor allem trinkende Menschen sehen würde, ging aber trotzdem mit.
    Wir kamen gegen fünf Uhr an, als es noch nicht ganz dunkel war und wir noch die herrliche Aussicht hatten. Wir fanden einen freien Tisch, und ich holte mir Le Monde und die International Herald Tribune. Beide Zeitungen las ich penibel jeden Tag, und ich dachte, hier könnte die Lektüre eine gute Ablenkung sein, dass ich die trinkenden Menschen weniger beachtete.
    Wir bestellten Tee, Rebecca beobachtete die anderen Gäste, ich las meine Zeitungen. Nach fünf oder zehn Minuten blickte ich auf. Rechts neben mir saß ein Mann in einem Sessel und trank eine dunkle Flüssigkeit, Whiskey oder Cognac, vermutete ich – und es war mir egal. Ich schaute wieder in meine Zeitung, und es dauerte ein bis zwei Minuten, bis ich das gleichgültige Gefühl bewusst registrierte.
    Das ist interessant, dachte ich.
    Ich blickte wieder auf und zu dem Mann in dem Sessel. Inzwischen hatten sich zwei weitere Personen hinzugesellt, die drei prosteten sich zu. Wieder war es mir egal. In all den Jahren meinesAlkoholikerdaseins hatte ich das nicht erlebt. Das Baclofen hatte es in fünf Wochen geschafft.
    Ich ließ meine Augen durch den Raum wandern und riskierte sogar einen Blick auf die Bar mit den schimmernden Flaschen. Sie riefen mich nicht mehr, wie sie es so lange getan hatten. Ich sah Menschen mit unterschiedlichen Getränken: Kaffee und Tee, Limonade, Bier, Champagner, Schnäpse. Kein Gedanke an Alkohol kam mir in den Sinn, kein Craving plagte mich.
    Ich dachte: Das ist entweder ein Märchen oder ein Traum. Im nächsten Augenblick wird der Zauber brechen, und ich werde mit dem schrecklichen Bedürfnis zu trinken aufwachen.
    Es geschah nicht.
    Eine halbe Stunde später machten Rebecca und ich uns auf den Heimweg zum gemeinsamen Abendessen mit ihrer Familie. Der Zauber brach immer noch nicht, der Traum endete nicht. An dem Abend verspürte ich erstmals seit Beginn meiner Sucht kein Verlangen nach Alkohol.
    Wir blieben noch drei Tage in Megève. Am letzten Nachmittag liehen Rebecca und ich uns Ski und vergnügten uns eine Weile auf den Hängen. Ihre Kinder waren natürlich jeden Tag Skilaufen gewesen und neckten uns, dass wir bis zur letzten Minute gewartet hatten. Auf der Rückfahrt nach Paris am Abend fragte ich mich, ob das Craving wiederkehren würde, wenn ich zu Hause war und meine übliche Routine mich eingeholt haben würde.
    Es kehrte nicht wieder.
    An dem Punkt steigerte ich meine Baclofen-Dosis nicht weiter, denn die 270 Milligramm erzeugten eine zeitweilige Schläfrigkeit, die anders als entsprechende Erscheinungen bei niedrigen Dosen nicht wieder verschwand. Es war nicht unangenehm, ganz im Gegenteil. Ich verspürte keinerlei Angst. Aber zuweilen wurde ich sehr müde, und einmal schlief ich beim Abendessen mit einem Freund am Tisch ein. Zwölf Tage blieb ich bei 270 Milligramm, ohne dass das Verlangen nach Alkohol oder das Denken an Alkohol zurückkehrte. Seit Tag 15meines Baclofen-Protokolls hatte ich keinen Alkoholtraum mehr gehabt. Außerdem fühlte ich mich ruhiger und physisch entspannter als je zuvor in meinem Leben.
    Über die nächsten zwölf Tage reduzierte ich meine Baclofen-Dosis schrittweise auf 120 Milligramm. Mit dieser Dosierung fühlte ich mich nicht schläfrig, das Craving und die Gedanken an Alkohol kamen auch nicht wieder, und ich hatte keine merklichen Muskelverspannungen und Angstgefühle. Die Steigerung auf 270 Milligramm hatte offenbar eine Schwellenreaktion ausgelöst, die nun mit einer niedrigeren Dosierung erhalten werden konnte.
    Irritierenderweise zuckten meine Wadenmuskeln weiter hin und wieder. Aber das Zucken war nie der Vorbote zunehmender Muskelverspannungen und wachsender Angst wie so oft in der Vergangenheit.
    Am 64. Tag meines Baclofen-Protokolls, am 11. März, fixierte ich meine tägliche Dosis bei 120 Milligramm, mit

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