Das Engelsgrab
Junge war dabei gewesen, seine Hausaufgaben zu machen.
Ich nickte Toby zu. »Deine Mutter hat uns schon erzählt, dass du in der vergangenen Nacht eine seltsame Begegnung gehabt hast.«
»Nicht nur da.«
»Oh - wann noch?«
»Das ist schon öfter passiert.«
»Immer wenn du im Schlaf dein Bett verlassen hast und durch die Gegend gegangen bist?«
Toby verzog die Lippen. »Nee, so ist das nicht. Ich bin ja nicht nur durch die Gegend gegangen.« Er wies auf das Fenster, das den Abschluss einer Dachgaube bildete. »Meistens bin ich aus dem Fenster geklettert und dann raus aufs Dach.«
»Ho, das ist nicht eben die feine Art eines Schlafenden«, sagte ich und lächelte.
Toby schaute mich erstaunt an. »Dafür habe ich nichts gekonnt. Das war der Mond.«
»Richtig.«
»Er holt mich immer, und ich wäre auch bestimmt schon vom Dach gefallen, wenn es nicht diese Lichtgestalt gegeben hätte, die mich immer rettete.«
»Dein Schutzengel?«
Toby nickte. Sein Gesicht blieb dabei sehr ernst. »Ja, Mr. Sinclair, es ist mein Schutzengel gewesen.«
»Wie sah er aus?« wollte Suko wissen.
Toby brauchte nicht lange zu überlegen. Er beschrieb das, was er gesehen hatte, detailliert und sprach natürlich zuerst von der wunderschönen Lichtglocke, in deren Innern sich eine nackte Frauengestalt abzeichnete. Er sprach davon, wie toll sie ausgesehen hatte und erzählte uns auch von ihrem langen, wunderschönen Haar. Der Engel hatte ihm stets geholfen, aber diese Zeiten waren nun vorbei, wie er uns mit leiser und trauriger Stimme erklärte.
»Kannst du uns das genauer sagen?« fragte ich.
Toby überlegte. Er schaute auf seine Hände, an deren Haut sich einige Tintenkleckse befanden. »Er hat von seinem Tod gesprochen, dem er nicht mehr entkommen kann.«
»Warum nicht?« flüsterte Suko.
»Weil er gejagt wurde.«
»Von wem?«
Toby schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Das hat er mir auch nicht gesagt. Jedenfalls hatte er Angst. Selbst ein Schutzengel hat Angst. Das ist kaum zu verstehen, aber ich weiß es.« Toby räusperte sich. »Ich weiß aber nicht, wovor er sich fürchtete, das hat er mir nicht gesagt. Er hat nur erzählt, wo er sterben würde.«
»Wie hieß der Ort?«
»Da wollte er ja hinfliegen, Mr. Sinclair.«
»Nun sag ihn schon, Toby«, drängte seine Mutter, die sah, dass ich leicht abwinkte.
Toby druckste herum. Es fiel ihm nicht leicht, den Namen auszusprechen. Er hob einige Male die Schultern und schluckte dann.
Sein kleiner Adamsapfel bewegte sich. »Es ist ein Friedhof«, flüsterte er. »Ihn hat er sich ausgesucht. Er nannte ihn Friedhof der Gerechten, auch Friedhof der Kinder. Mehr weiß ich nicht.«
»Und er wollte dort freiwillig hin?« hakte ich nach.
Toby nickte. »Ja, das wollte er. Ich glaube, der wollte sich seinen Platz zum Sterben selbst aussuchen.«
»Er wurde gejagt, das hast du richtig verstanden?«
»Er sagte es mir.«
»Aber er hat keinen Namen genannt?«
»Nein. Der Schutzengel sprach nur von mächtigen Feinden. Wer das sein könnte, weiß ich nicht.«
Ich drehte mich zu Suko hin. Er sah meinen fragenden Blick und saugte die Luft hörbar durch die Nase ein, bevor er fragte: »Wer kann Engel jagen wollen, John? Wer ist ihr Feind?«
»Ich weiß es nicht«, gab ich zu. »Ich müsste darüber erst nachdenken. Schutzengel, auf die Jagd gemacht wird, um sie letztendlich zu töten? Wer steckt dahinter? Ein Mensch nicht, denke ich«, gab ich mir selbst die Antwort.
»Gut, dann ein Dämon.«
Durch den Blick meiner Augen stimmte ich Suko zu. Neben mir saß Lilian Cramer, die ihre Hände ineinander gekrampft hielt. Sie stöhnte leise auf und flüsterte: »Wohin treibt uns dieser Fall noch? Ich höre hier Dinge, mit denen ich nie zuvor konfrontiert worden bin. Das alles kommt mir so suspekt vor. Damit kann ich einfach nichts anfangen. Das geht über meinen Horizont hinaus. Aber Sie sind ja die Fachleute und kennen sich aus. Es war gut, dass ich zu Ihnen gekommen bin, glaube ich.«
»Ja, das war es«, gab ich ihr recht.
»Dann müssten wir nur den Friedhof finden«, kam Suko wieder auf das Thema zurück.
»Dort liegt er dann tot«, sagte Toby.
»Das weißt du genau?«
»Ja, Mr. Suko. Er hat es mir gesagt. Und er sagte, dass ich jetzt allein bin. Wir haben noch immer Vollmond. Ich fürchte mich vor der nächsten Nacht.«
Ich beugte mich vor und nahm seine Hände in meine. »Das kann wohl jeder von uns verstehen, Toby. Trotzdem sage ich dir, dass du dich vor der folgenden Nacht
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