Das Engelsgrab
Augen verloren, denn der Bewuchs hier war ziemlich dicht.
Mich interessierten vor allen Dingen die Gräber, denn nach ihnen suchte ich.
Kein Gärtner hatte in den vergangenen Jahren auf diesem Gelände eine Schere angesetzt. So sah die Umgebung auch aus. Da gab es kaum freie Flächen, und auch die damaligen Wege waren regelrecht zugewuchert. Zum Glück hatte man früher manche Gräber noch prunkvoller ausgestattet, so dass zahlreiche Grabsteine die natürlichen Wände überwuchsen.
Ich entdeckte Kreuze und Figuren. Unter letzteren befanden sich auch Engel. Die allerdings waren aus Stein gefertigt worden. Sie standen in unterschiedlichen Posen auf den Gräbern. Manche wirkten wie Sieger, andere sahen traurig aus, und ihre Köpfe waren mal nach rechts oder nach links geneigt.
Sie schauten dabei zu Boden, als wollten sie die längst verblichenen Knochen in den alten Gräbern sehen.
Ich bahnte mir meinen Weg. Suchte auch weiterhin nach Gräbern, aber es brachte nichts. Niemand lag darauf. Wer immer hier gestorben war, der hatte seinen Platz unter der Erde gefunden.
Es wuchsen auch hohe Bäume auf dem Gelände. Sie breiteten ihr Geäst aus, als wollten sie die Toten vor Schlimmerem bewahren. Vögel zwitscherten. Es war ein völlig normaler Friedhof, der hin und wieder auch vom Sonnenlicht beschienen wurde, wenn die Strahlen genügend Lücken fanden. Da konnten sich die Flickenteppiche aus Licht und Schatten auf dem Untergrund ausbreiten.
Wer die Stille liebte, der war hier richtig. Nichts störte den Frieden, auch wenn es ein Frieden des Todes war. Ich hörte nur meine Schritte, wenn meine Füße über Laub vom letzten Jahr schleiften.
Wieder erreichte ich eine Reihe von Gräbern. Diesmal standen sie dichter beisammen. Es waren die schlichteren. Da vermisste der Besucher jeglichen Kitsch oder auch Prunk einer steinernen Erinnerung.
Kreuze standen wie in Reih und Glied. Allerdings doch nicht so exakt, weil sie auch von unterschiedlicher Größe waren. Sie standen auch nicht alle kerzengerade. Manche sahen aus, als hätten sie einer plötzlichen Sturmbö nicht mehr trotzen können. Sie waren zur Seite gekippt, aber nicht gefallen.
Ich spürte das Kribbeln auf meinem Rücken. Es war eine Vorahnung.
Mich überkam einfach das Gefühl, dicht am Ziel zu sein, obwohl ich noch nichts sah.
Bisher hatte ich die Gräber nur von der Rückseite gesehen. Ich wollte sie mir auch von vorn anschauen und bewegte mich an der linken Seite entlang. Dabei warf ich schon einen Blick nach rechts - und blieb abrupt stehen. Auf einem der Gräber lag etwas!
Sehr deutlich war es wegen der großen Entfernung nicht zu erkennen, es war ein hellerer Gegenstand, der sich von der dunklen Erde abhob.
Ich ging noch nicht hin und schaute über die Gräber hinweg. Der Gegenstand bewegte sich nicht. Er musste auf dem zweitletzten Grab von mir aus gesehen liegen.
Diesmal empfand ich die Stille als besonders tief. Ich hörte auch das Summen einer Wespe in meiner Nähe, sah sie allerdings nicht, und auch das Tier verschmähte zum Glück meine Nähe.
Ich erwartete, einen toten Engel zu finden und zugleich den Körper eines Menschen, einer unbekleideten Frau.
An der Frontseite der Gräber schritt ich entlang. Von Suko hörte und sah ich nichts. Er befand sich auf der anderen Seite des Friedhofs.
Diesmal hatte ich den richtigen Riecher gehabt und blieb genau vor dem Grab stehen, auf das es mir ankam. Ich schaute nach unten.
Der Engel lag dort wie eine zurückgelassene Schaufensterpuppe. Ein leicht rosiger Körper, auf dem Rücken liegend, doch aus der Brust ragten die Schäfte von zwei Pfeilen hervor. Jetzt wusste ich, wie dieser Engel umgebracht worden war!
Der leichte Schauer auf meinem Rücken blieb bestehen. Ich konnte mich einfach nicht damit abfinden, einen Engel vor mir liegen zu sehen.
Engel hatte ich in anderer Erinnerung. Der hier sah aus wie ein Mensch oder eben wie eine Puppe aus irgendeinem Kaufhaus.
Ich bückte mich und streckte der Gestalt zugleich meinen Arm entgegen. Den Körper berührte ich an den Beinen. Es war tatsächlich eine Haut, über die meine Handfläche glitt. Sie fühlte sich auch nicht eiskalt an, sondern schien die Wärme des Lebens in sich gespeichert zu haben.
Neben dem Grab ging ich entlang und blieb in Höhe des Gesichts stehen. Die Augen in den feingeschnittenen, ebenmäßigen Zügen waren nicht geschlossen. Sie standen weit offen. Der Blick ging hinein in die Unendlichkeit, die nur für den Engel sichtbar
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