Das Engelsgrab
einschüchtern. Zur Not bin ich auch noch da. Sie können mich ja dann rufen.«
»Danke, ich werde mich daran erinnern.«
Wir boten Lilian Cramer Platz an, und sie setzte sich. Sie fühlte sich sichtlich unwohl, wobei sie sich mehrmals mit der Hand durch ihr Haar strich.
»Denken Sie daran, Mrs. Cramer«, sagte Suko, »dass Sie hier unter Kollegen sind. Sie brauchen wirklich nicht scheu zu sein. Und Sie kommen bestimmt nicht grundlos.«
»Das ist allerdings wahr.«
»Dann würde ich vorschlagen«, sagte ich, »Sie beginnen einfach von vorn.«
Lilian Cramer holte tief Luft. Sie senkte den Blick der grauen Augen.
In ihr Gesicht war etwas Farbe zurückgelangt, und die Flügel der feingeschnittenen, kleinen Nase zitterten. »Es ist ja nicht ganz einfach für mich, aber es geht um meinen Sohn Toby. Ich erziehe ihn allein. Sein Vater starb vor ein paar Jahren, und so sind wir zu einer verschworenen Gemeinschaft geworden.«
»Dann raus damit!« forderte ich sie auf.
»Sofort, Mr. Sinclair. Toby glaubt…«, erklärte sie flüsternd und berichtigte sich. »Nein, er ist sich sicher, dass sein Schutzengel in der letzten Nacht ermordet wurde.«
Weder Suko noch ich sagten ein Wort. Wir waren einfach baff. Mit dieser Eröffnung hatte keiner von uns gerechnet. Zumindest mir war, als hätte ich einen Schlag in den Magen bekommen. Zugleich aber rieselte es mir kalt den Rücken hinab.
Lilian Cramer fasste unser Schweigen falsch auf. »Sie glauben mir nicht - oder?«
Suko übernahm das Wort. »Das hat niemand von uns gesagt, Mrs. Cramer. Wir sind nur überrascht.«
»Das war ich auch.«
»Wie kam Ihr Sohn darauf?«
Mrs. Cramer konnte sich mit der Antwort Zeit lassen, denn Glenda erschien und servierte den Kaffee. Danach ging sie nicht wieder zurück in ihr Vorzimmer, sondern blieb vor der offenen Tür in unserem Büro stehen.
Lilian Cramer musste die Tasse mit beiden Händen halten, so sehr zitterte sie. Erst als sie einige Schlucke getrunken hatte, war sie in der Lage, einen Bericht abzugeben.
Was wir in den folgenden Minuten hörten, klang nicht nur unglaublich, sogar unheimlich und geisterhaft. Mit normalem und logischem Denken war dem kaum beizukommen, und Lilian sah die Skepsis auf unseren Gesichtern.
»Sie glauben mir nicht, wie?«
»Das haben wir nicht gesagt«, sprach ich schnell weiter. »Immerhin wissen wir, dass es Engel gibt, und wir haben auch einige Begegnungen mit ihnen hinter uns.«
»Dann denken Sie auch, dass Toby die Wahrheit gesagt hat?«
»Zumindest sollten wir uns einmal mit Ihrem Sohn unterhalten, Mrs. Cramer.«
»Er ist zu Hause.«
»Wunderbar.«
»Wollen Sie jetzt zu ihm fahren?«
»Das wäre am besten - oder?«
Sie hob die Schultern und wirkte plötzlich verlegen. »Ich hätte nie gedacht, dass Sie mir Glauben schenken würden, aber Sie haben recht, es ist wohl wirklich besser, wenn Toby Ihnen alles selbst erzählt, was er in seinem Zustand erlebt hat.«
»Ich frage noch einmal nach«, sagte ich. »Ihr Sohn Toby ist ein Schlafwandler?«
»Leider«, gab sie zu. »Immer wenn der Vollmond am Himmel steht, überkommt es ihn.«
»In jeder Vollmondnacht?« erkundigte sich Glenda. Sie wusste nicht so recht, was sie antworten sollte. »Ja und nein, kann man da sagen. Zumindest schläft Toby bei Vollmond nicht so normal wie sonst. Er ist auch nicht in jeder Nacht unterwegs. Manchmal aber erwischt es ihn schon hart.«
»Und da wurde er manchmal vor dem Schlimmsten bewahrt?«
»Ja, Miss Perkins. Eben durch seinen Engel.« Lilian sah Glenda an.
»Das ist kaum glaublich, aber ich glaube ihm trotzdem. So etwas kann sich niemand ausdenken.«
»Das ist möglich«, gab ich zu.
Sie senkte den Kopf. »Und nun ist der Engel tot. Oder befindet sich auf dem Weg in den Tod. Das weiß ich alles nicht. Jedenfalls komme ich nicht mehr zurecht, und Sie sind dabei meine letzte Hoffnung, auch wenn es sich pathetisch anhört.«
»Das muss es ja nicht«, sagte ich. »Mein Kollege Suko und ich werden mit Ihnen fahren und mit Toby selbst sprechen.«
Die Spannung löste sich aus ihrem Gesicht, und sie wurde wieder lockerer. »Das ist schon mehr, als ich erwartet habe. Ich danke Ihnen schon jetzt. Toby wird Ihnen bestimmt mehr sagen können. Er hat auch von einem Friedhof gesprochen, auf dem der Engel seine Existenz verlieren soll. Leben kann man ja nicht sagen, aber das kann Toby Ihnen alles besser und ausführlicher berichten.«
»Wir freuen uns darauf«, erwiderte ich und erhob mich noch vor Suko, der
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