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Das entschwundene Land

Das entschwundene Land

Titel: Das entschwundene Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Lindgren
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und schlenderten im Gewimmel umher, und das taten wir Kinder auch. Da kamen herumreisende Schausteller mit ihren Tiermenagerien und Schießbuden und Karussells in die Stadt und mit ihnen die aufregenden Geheimnisse der unbekannten Welt draußen. Hatte man nie zuvor etwas anderes gesehen als Pferde, Kühe und Schweine, und es wurde einem plötzlich eine Riesenschlange gezeigt, die angeblich »siebzig Jahre alt und g anze vier Meter lang« war, da fühlte man sich wahrlich auf des Lebens Wogenkamm. Die Straßen der Stadt waren nicht wiederzuerkennen, so viele Menschen drängten sich dort, die Bonbontanten auf dem Marktplatz machten gute Geschäfte, alle Stände und Läden waren gestopft voll, überall herrschte Leben und Treiben, alles war wunderbar und aufregend – nur zu gut verstand m an die Magd, die beim häuslichen Katechismusverhör die Feiertage des Kirchenjahres aufzählen sollte und der nur einfiel: »Weihnachten und Ostern und der Vimmerbymarcht.« Auch wenn wir Kinder es nicht fanden, so war das Wichtigste des »Vimmerbymarchts« doch das, was sich auf der Viehkoppel abspielte. Dort drängten sich Bauern und Viehhändler und Roßtäuscher zusammen m it Och sen, Kühen und Pferden, dort wurde getauscht und gehandelt und gefeilscht, und die Pferde ließ man zur Probe die Pfarrhofsallee entlang bis zu unserem Kuhstall, dem Wendepunkt, traben, daß der Staub nur so wirbelte. Die Roßtäuscher, die auf allen Viehmärkten zu finden waren, taten ihr Bestes, gutgläubige Bauern übers Ohr zu hauen, und hin und wieder gelang es ihnen auch. Wir hörten von so einem bedauernswerten Bauern, dem m an eine alte, elende Schindmähre aufschwatzte, die man für diesen Tag mit Arsen aufgepulvert hatte, so daß sie auf dem Probelauf wie das rassigste Rennpferd dahingaloppierte. Auch nach dem Kauf lief die Stute flott den ganzen Weg vom Markt bis zum Hof. Doch als der Bauer am nächsten Morgen in den Stall kam, lag sie da und konnte sich nicht mehr rühren, und jetzt wurde ihm klar, daß man ihn betrogen hatte. Am Markttag des folgenden Monats lief ihm der Roßtäuscher zufallig über den Weg. Zwar versuchte er zu entwischen, aber als es nicht glückte, hielt er es wohl für das klügste, ganz unbefangen zu fragen: »Na, was macht die Stute?«
    »Danke, geht so«, antwortete der Bauer, »sie kann nu schon jeden Tag 'n Stündchen auf sein.« Solche schlagfertigen Antworten wurden ungemein geschätzt und schnell zu geflügelten Worten; das ungehobelte Bauernvolk hatte einen gewissen Sinn für Humor.
    Sind das nun nicht Leute, die man gern haben muß, fragt Albert Engström und denkt dabei an seine småländ ischen Landsleute. 0 ja, Albert, ganz gewiß! Zumindest alle, die ich in meiner Kindheit um mich hatte, fast ausnah m slos mußte man sie gern haben, und wieviel sie für die eigene Lebenseinstellung bedeutet haben, das ist schon des Nachdenkens wert. Fragt mich aber jemand nach meinen Kindheitserinnerungen, dann gilt mein erster Gedanke trotz allem nicht den Menschen
    sondern der Natur. Sie umschloß all meine Tage und erfüllte sie so intensiv, daß man es als Erwachsener gar nicht mehr fassen kann. Der Steinhaufen, wo die Walderdbeeren wuchsen, die Leberblümchenstellen, die Schlüsselblumenwiesen die Blaubeerplätze, der Wald mit den rosa Erdglöckchen im Moos, das Gehölz rings um Näs, wo wir jeden Pfad und jeden Stein kannten, der Fluß mit den Seerosen, die Gräben, die Bäche und Bäume, an all das erinnere ich mich besser als an die Menschen. Steine und Bäume, sie standen uns nahe, fast wie lebende Wesen, und die Natur war es auch, die unsere Spiele und Träume hegte und nährte. In der Natur ringsum war auch all das angesiedelt, was unsere Phantasie zu erfinden vermochte. Alle Sagen und Märchen, alle Abenteuer, die wir uns ausgedacht oder gelesen oder gehört hatten, spielten sich nur dort ab, ja sogar unsere Lieder und Gebete hatten dort ihren angestamm ten Platz. So begann »Ein reines Herz ...« beispielsweise an der Holzschuppenecke und hörte am Graben hinter dem Waschhaus auf, das stand jedenfalls für mich fest. Als ich dies aber zufällig und als allgemein bekannte Tatsache meinem Bruder Gunnar gegenüber erwähnte, rief er bestürzt aus: »Ja, bist du denn ganz und gar verrückt? › Ein reines Herz ‹ geht doch hinterm Kuhstall lang!«
    Noch heute ist es mir unbegreiflich, daß er »Ein reines Herz« auf einem so trivialen Platz wie hinter der Jauchegrube ansiedeln konnte. Wie gut hatte es da doch

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